Das Grauen hat viele Gesichter: Jüngere Kinogänger denken an Thomas Kretschmann (57) aus «Dracula 3D» (2012), Filmhistoriker an Bela Lugosi (1882–1956) aus «Dracula» von 1931, doch den meisten erscheint Klaus Kinski (1926–1991) aus «Nosferatu – Phantom der Nacht» (1979) vor dem geistigen Auge.
Graf Dracula ist der berühmteste Vampir der Filmgeschichte. Die literarische Vorlage des adligen Blutsaugers liefert 1897 der irische Schriftsteller Abraham «Bram» Stoker (1847–1912) mit seiner Mischung aus Schauergeschichte, Abenteuerroman und Liebesstory in der Form von Tagebucheintragungen.
Nun erscheint die reich bebilderte und ausführlich kommentierte Neuausgabe des Buchs in der mustergültigen Neuübersetzung von Andreas Nohl beim Fischer-Tor-Verlag. Ein gewichtiges Buch von 1,785 Kilogramm, so schwer wie ein Drittel des Bluts in einem menschlichen Körper. «Ich bin Dracula und heisse Sie in meinem Haus willkommen», steht auf Seite 88 geschrieben. «Treten Sie ein.»
«Sie werden ‹Dracula› mit völlig neue Augen lesen»
Aber dieses Werk sorgt nicht für Blutleere, vielmehr versetzt es in Wallungen, denn hier kann der eingefleischteste Dracula-Fan heisse Neuigkeiten lesen. «Diese Ausgabe sollte jeder im Regal haben», urteilt denn auch Horror-König Stephen King (72, «Es»). «Sie werden ‹Dracula› mit völlig neuen Augen lesen. Faszinierend!»
Verantwortlich für diese neue Sicht ist der US-amerikanische Herausgeber Leslie S. Klinger (73) mit seinen sachkundigen Kommentaren: Keine geografische Benennung, die er nicht aufsuchte, keine zeitliche Formulierung, der er nicht nachging. Klinger durchleuchtete jeden Satz auf Herz und Nieren und kommt dadurch selbst Unwahrscheinlichkeiten in Stokers Schreibe auf die Schliche.
Und wie kam Klinger zu seinen neuen Erkenntnissen? Er ist der Erste, der die in Privatbesitz befindliche handschriftliche Ur-Version von «Dracula» in seine Arbeit einbeziehen konnte: «Ich durfte das gesamte Manuskript über einen Zeitraum von zwei Tagen in Augenschein nehmen», schreibt Klinger im Vorwort, «und die überraschenden Ergebnisse sind in meine Anmerkungen eingeflossen.»
Genfer Villa ist Hort des Horrors
So wissen wir nun: Stoker schrieb ursprünglich den Titel «The Un-Dead» (Der Untote) hin und nicht «Dracula». Und Klinger zeigt des Weiteren auf, dass die erste in Grossbritannien publizierte Vampir-Geschichte gar nicht die von Bram Stoker ist: Der Arzt John Polidori (1795–1821) veröffentlichte 1819 «The Vampyre» – eine Erzählung, die notabene drei Jahre zuvor in der Schweiz entstanden war.
Damals war der Arzt mit anderen Briten wegen Dauerregens in der Villa Diodati in Cologny am Genfersee eingeschlossen. Um die Zeit zu vertreiben, sollte jeder eine Schauergeschichte schreiben. Polidori schrieb «The Vampyre» und die ebenfalls anwesende Mary Shelley (1797–1851) ihren berühmten Roman «Frankenstein» (1818).
So stammen also diese Horror-Story um einen künstlichen Menschen und die Blutsauger-Geschichte letztlich aus demselben Schweizer Haus.
Bram Stoker: «Dracula – grosse kommentierte Ausgabe», herausgegeben von Leslie S. Klinger, Fischer-Tor-Verlag
Bram Stoker: «Dracula – grosse kommentierte Ausgabe», herausgegeben von Leslie S. Klinger, Fischer-Tor-Verlag