Burn-out. Der Belgier, der am 7. Mai 1959 im Wartezimmer des Zürcher Psychiaters Franz Niklaus Riklin sass, war mit den Nerven am Ende. In zwei Wochen würde er seinen 51. Geburtstag feiern. Kein Grund zur Freude. Er brauchte dringend Hilfe, doch die einzige Person, die ihm in dieser verzwickten Situation hätte helfen können, war seine Frau Germaine Kieckens. Aber sie war Teil des Problems.
Nach 27 Ehejahren hatte sich der Comiczeichner Georges Remi in das 22-jährige Fotomodell Fanny Vlaminck verliebt und seiner Ehefrau eine Ehe zu dritt vorgeschlagen. Germaine hatte abgelehnt. Sie war stets die starke Frau hinter seinem Rücken, ein Fels im Meer. Bei Problemen schob er sie vor und tauchte unter. Die dominante Germaine hatte den «unreifen Jungen» 1932 auf der Redaktion der Brüsseler Tageszeitung «Le Vingtième Siècle» kennengelernt. Er war 25, sie ein Jahr älter. Sie stand eigentlich auf ältere Männer, aber Chefredaktor Pater Norbert Wallez drängte die beiden zur Heirat, damals widersprach man nicht.
Comics als Traum
Germaine leitete die Frauenbeilage, er die Kinderbeilage. Er träumte von einem eigenen Studio für Gebrauchsgrafiken, sie pushte ihn, voll auf Comics zu setzen, und formte aus dem tollpatschigen Georges Remi den weltberühmten Hergé. Das Pseudonym setzt sich zusammen aus dem ersten Buchstaben des Nachnamens und dem ersten Buchstaben des Vornamens, RG, französisch ausgesprochen ergibt es «Hergé».
Jetzt sass er im Wartezimmer des renommierten Zürcher Psychiaters Franz Niklaus Riklin. Dessen Vater, Franz Beda Riklin, Psychiater und Kunstmaler, hatte seinerzeit C. G. Jung in das Forschungsgebiet der Assoziationslehre eingeführt. Hergé hoffte, dass der Seelendoktor ihm helfen könne, wie ihm bis anhin auch Germaine geholfen hatte. Längst hatte er realisiert, dass ihm ohne Germaine jegliche Orientierung fehlte. Er brauchte sie, aber er liebte Fanny. Hergé durchlebte die klassische Krise der Lebensmitte. Das psychische Wohlbefinden sinkt auf den Nullpunkt, und die innere Rastlosigkeit schlägt in Missmut und Unzufriedenheit um, obwohl eigentlich alles in bester Ordnung ist. Doch bei Hergé war nichts mehr in Ordnung. Nach zwei Nevenzusammenbrüchen träumte er von weissen Flächen, wachte nachts schweissgebadet auf. Sogar der Humor kam ihm abhanden. Er war auf Co-Autoren angewiesen. Bernard Heuvelmans bezahlte er 250 belgische Francs für jeden Gag, den er verwerten konnte, insgesamt 24 250. Auf den Zahlungsbelegen stand jeweils «Mitarbeit an einem Szenario», aber in den Alben waren weder Heuvelmans noch all die anderen Co-Autoren aufgeführt. Hergé fürchtete, dass der Verlag ihn dazu drängen könnte, die neuen Tintin-Abenteuer an jüngere Comicautoren abzutreten, an frische Talente, die noch hungrig und ehrgeizig waren. In seiner Verzweiflung suchte er Priester und Hellseher auf und tauchte immer wieder in seiner geliebten Schweiz unter. Schliesslich fuhr er nach Zürich.
Es war Raymond de Becker, sein früherer Chefredaktor bei der belgischen Tageszeitung «Le Soir», der Hergé empfohlen hatte, den Schweizer Psychiater Riklin aufzusuchen. De Becker kannte sich aus mit Krisen. Er war der politische Berater der Rexisten, der belgischen Faschisten, und hatte während des Kriegs «Le Soir» zum Propagandaorgan der Nazis gemacht und sich in seinen Kolumnen für die neue Ordnung unter Hitler eingesetzt. Hergé war seiner Redaktion beigetreten und hatte antisemitische Illustrationen gezeichnet, während in Brüssel Menschen mit dem gelben Judenstern unter seinem Bürofenster vorbeigingen.
Nach Kriegsende wurden De Becker und Hergé zusammen mit vielen anderen Kollegen als Nazi-Kollaborateure vor Gericht gestellt und verurteilt. Hergé verlor für zwei Jahre sämtliche Bürgerrechte, De Becker wurde 1946 zum Tode verurteilt, 1951 begnadigt und mit einem Berufsverbot belegt. Er tauchte in Paris unter und publizierte unter einem Pseudonym Kriminalromane. Es reichte nicht. Hergé verschaffte seinem depressiven Freund einen Job im Schweizer Buchhandel und unterstützte ihn finanziell bis zu seinem Selbstmord 1969. Professor Riklin hatte ihm trotz mehrerer Konsultationen nicht helfen können.
Die grafischen Helvetismen sind omnipräsent
Hergé wusste das, als er im Mai 1959 im Wartezimmer des Zürcher Psychiaters sass. Trotzdem versprach er sich viel von diesem Treffen. In seiner esoterischen Gedankenwelt waren Wunder und Zufälle genauso möglich wie in den Abenteuern von «Tim & Struppi». Und er liebte die Schweiz, die Berge und die Anonymität. Hier fühlte er sich geborgen, es war sein zweites Zuhause. Er kannte die Gegend um den Genfersee recht gut, Nyon, Gland, Rolle, Yvoire waren ihm sehr vertraut. In Villars kaufte er sich sogar ein Haus. Er liebte die verschneiten waadtländischen Alpen, die ihn bei der grafischen Umsetzung von «Tim in Tibet» inspiriert hatten; die verschneiten Schweizer Alpen als Vorlage für die Himalaja-Zeichnungen. Drei Jahre zuvor war «Der Fall Bienlein (L’Affaire Tournesol)» erschienen, der 17. «Tim & Struppi»-Band. Die Vorlage für den hageren Professor Bienlein mit dem steifen Kragen war der legendäre Schweizer Erfinder, Physiker und Ballonfahrer Auguste Piccard, der Vater des Tiefseeforschers Jacques Piccard und Grossvater von Bertrand Piccard, der mit Weltumrundungen im Ballon und im Solarflugzeug Luftfahrtgeschichte geschrieben hat.
Die grafischen Helvetismen sind zahlreich. Das Schloss Chillon in Montreux wurde zum Schloss Kropow in «Ottokars Zepter». Den Genfer Flughafen und den Bahnhof hat er sehr genau abgebildet, auch wenn das Innere dem Lausanner Bahnhof entspricht. Das Hotel Cornavin war ihm bestens vertraut. Er hatte zwei Jahre vor der Publikation hier übernachtet, allerdings nicht wie Professor Bienlein im Zimmer 122, diese Nummer existiert nicht.
Dass die Schweizer Lokalitäten derart realistisch abgebildet sind, wird von den Biografen oft als Beleg für Hergés umfangreiche Recherchen aufgeführt. Aber es verhält sich umgekehrt. Die meisten Autoren siedeln fiktive Handlungen, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind, gern dort an, wo sie sich privat aufgehalten haben. Das sind Locations, die sie detailliert kennen. Heute genügen Google und Tripadvisor, um Zimmer, Speisekarte und Umgebung so genau zu beschreiben, als sei man selbst dort gewesen. Hergé hatte in den ersten Alben kaum Interesse an Recherchen. Erst als die Papierknappheit während des Kriegs den Verlag zwang, die schwarz-weissen Alben von 124 auf 62 Seiten zu kürzen, wurden sie farbig, und Co-Autoren wie Edgar P. Jacobs (Blake & Mortimer) und Jacques Martin (Alix, L. Frank) modernisierten die Geschichten, liessen Hauswände von Efeu überwuchern und zeichneten Fahrzeuge so, dass man sie konkreten Marken zuordnen konnte. Als Leser bemängelten, dass Häuser und Landschaften in «Die geheimnisvolle Insel» reine Fantasiezeichnungen waren, schickte Hergé Bob De Moor, einen weiteren in den Alben nie erwähnten Co-Autor, nach Schottland, um alle Schauplätze genau abzuzeichnen.
Auch geschäftlich verband Hergé einiges mit der Schweiz. In Genf erschien seit 1930 das Wochenmagazin «L’Echo illustré», das zu den ersten Printmedien gehörte, die ab 1932 mit dem Abdruck der «Tim & Struppi»-Alben begannen, jede Woche ein Comicstreifen in Schwarz-Weiss. In Lausanne bestellte er noch in den 50er-Jahren bei seinem diskreten Buchhändler die Schriften des belgischen Faschistenführers Léon Degrelle; auch er ein Freund aus Pfadfindertagen und später sein Kumpel auf der Redaktion des «Vingtième Siècle». In einem Brief vom 17. Januar 1950 an Robert Crausaz lobt er die Kriegsmemoiren des uneinsichtigen «Hitler Belgiens» (wie er in Spanien genannt wurde) als «sehr bewegend und gut geschrieben». Mit jedem neuen Album wurden die dunklen Schatten hinter dem Mythos Hergé erneut thematisiert. Das setzte ihm enorm zu, er hielt nicht den Krieg für die schlimmste Zeit seines Lebens, sondern die anschliessende Verurteilung der Nazi-Kollaborateure.
Das Gespräch mit Riklin verlief anders als erwartet. Der Psychiater sagte ihm, dass Reinheit und Keuschheit und Makellosigkeit sein eigentliches Problem seien, er müsse lernen zu akzeptieren, dass er nicht makellos sei. Nur so könne er seine Dämonen besiegen. Aber vor allem müsse er mit dem Zeichnen aufhören, dann würden die weissen Flächen von selbst verschwinden. Doch Riklins Ratschläge waren genauso falsch wie jene, die der Psychiater seinerzeit Raymond de Becker gegeben hatte. Als Hergé nach Brüssel zurückkehrte, wurden die weissen Flächen farbig, und er verliess das gemeinsame Anwesen.
Erst 1977 willigte Germaine in die Scheidung ein. Der mittlerweile 70-Jährige heiratete Fanny. Am 3. März 1983 erlag Hergé im Universitätsklinikum Saint-Luc einer Leukämie-Erkrankung. Fanny heiratete später den Engländer Nick Rodwell. Sie leben heute gemeinsam in den Walliser Alpen. Die Liebe zur Schweiz hat überlebt.
Claude Cueni: Warten auf Hergé, Münsterverlag ist ab sofort erhältlich