Frau Schwarzer, auf der Redaktion hiess es: Du bist eine Frau, fahr du zu Schwarzer.
Alice Schwarzer: Ich muss Ihnen was gestehen. Es ist für mich einfacher, wenn mich Männer interviewen. Sie begegnen mir in der Regel unbefangener.
Frauen haben mehr Vorurteile?
Nein, aber Frauen glauben immer, sie müssten sich zu mir verhalten. Sie haben mehr Zwänge. Sind sie zu freundlich mit mir, kriegen sie von ihren Kollegen auf der Redaktion was zu hören.
Ich habe Ihre neue Autobiografie gelesen. Vieles wusste ich gar nicht.
Wann sind Sie denn geboren?
1985.
Ach, du lieber Gott! Das Buch beginnt ja Mitte der 70er.
Die Medien-Kampagne «Wir haben abgetrieben» 1971, die erste Sexismusklage gegen das Magazin «Stern» wegen frauenfeindlicher Titelbilder 1978, dann die «Emma»-Kampagne gegen Pornografie 1988 – welches war der härteste Kampf?
Der jeweils aktuelle. Es hört ja nicht auf. Der Kampf für das Recht auf Abtreibung war 1971 ein totaler Tabubruch. Man redete nicht einmal mit der eigenen Mutter drüber. Schlich sich zu Engelmacherinnen, bei denen die Frauen auf dem Küchentisch ihr Leben riskierten. Oder man fuhr in die Schweiz, wenn man Geld hatte.
Haben Sie abgetrieben?
Nein, ich hatte Glück. Aber ich kenne nur zu gut den Gedanken daran. Das Verrückte an der Abtreibungsgeschichte ist: Allen voran die Frauenbewegung hat dazu beigetragen, dass die Abtreibungen weniger werden. Wir Frauen sind damals mit Siebenmeilenstiefeln vorangestürmt. Aber auch für die Gleichberechtigung gilt, wie für jeden Fortschritt: zwei Schritte vor, einen zurück.
Wieso gibt es heute weniger Abtreibungen?
Je unabhängiger man ist und je selbstbestimmter man mit dem eigenen Körper und der eigenen Lust umgeht, umso seltener wird man ungewollt schwanger.
Bekannt wurde Alice Schwarzer (77) 1977 mit der Gründung der feministischen Zeitschrift «Emma». Noch immer ist sie deren Verlegerin und Chefredaktorin. Und noch immer beschäftigen sie die Themen Kindesmissbrauch, Prostitution, MeToo und Kopftuch. In jüngerer Zeit stand sie wegen ihres Kampfes gegen den politischen Islam in der Kritik.
Nun erscheint mit «Lebenswerk» ihr 23. Buch, nach «Lebenslauf» 2011 die zweite Autobiografie. Alice Schwarzer lebt mit ihrer Ehepartnerin in Köln.
Bekannt wurde Alice Schwarzer (77) 1977 mit der Gründung der feministischen Zeitschrift «Emma». Noch immer ist sie deren Verlegerin und Chefredaktorin. Und noch immer beschäftigen sie die Themen Kindesmissbrauch, Prostitution, MeToo und Kopftuch. In jüngerer Zeit stand sie wegen ihres Kampfes gegen den politischen Islam in der Kritik.
Nun erscheint mit «Lebenswerk» ihr 23. Buch, nach «Lebenslauf» 2011 die zweite Autobiografie. Alice Schwarzer lebt mit ihrer Ehepartnerin in Köln.
Ihre Mutter wurde ungewollt schwanger. Sie hat Sie nach der Geburt bei den Grosseltern abgegeben. Wie sah Ihr Zuhause aus?
Mein Grossvater hat mich grossgezogen. Er war fürsorglich, einfühlsam, mütterlich. Meine Grossmutter hatte null mütterliche Ambitionen. Sie hat gewartet, bis sie mit mir diskutieren konnte. Sie war eine anstrengende, aber mutige Frau.
Sie schreiben im Buch: «Ich hielt meine zu Heftigkeiten neigende Grossmutter in Schach und beschützte meinen lieben Grossvater.» Viel Verantwortung für ein kleines Mädchen.
Ja. Aber mein Grossvater hatte mir ja auch viel gegeben. Meine Grossmutter hasste die Nazis, war eine hochpolitische Frau. Unter anderen Umständen wäre sie vielleicht Politikerin geworden. Aber das war in der Zeit nicht möglich. Deshalb hat sie den ganzen Druck der frustrierten Hausfrau an ihrem Mann ausgelassen. Aber ich habe auch Positives von ihr mitgekriegt: den Gerechtigkeitssinn, das Mitfühlende und den politischen Scharfblick.
Und Sie waren umgekehrte Geschlechterrollen gewohnt.
Ganz genau. Ich war erstaunt, als ich in die Welt rausging und plötzlich als Mädchen weniger wert sein sollte.
Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis?
Als ich 16 war, ja. In der Tanzschule hiess es, die Herren müssten nun die Damen auffordern. Ich dachte: Verdammt, wenn ich jetzt sitzen bleibe, wie stehe ich dann da? Dann forderte mich der bestaussehende Junge auf, Tom hiess der, und ich war aus dem Schneider.
Warum war das so schlimm?
Ich fand es empörend, dass mein Wert von der Gunst eines Mannes abhängen sollte. Aber wir Nachkriegsmädchen waren eigentlich alle nicht sehr angepasst. Oft waren die Väter im Krieg geblieben, die Mütter hatten ihren Mann gestanden. Aber wir wussten nicht, warum wir so drauf waren. Wir hatten keine Worte dafür, bis der Feminismus kam. Und die Männer auch nicht, die fanden uns interessant, aber auch ein bisschen anstrengend.
Als junge Frau entkamen Sie drei Vergewaltigungsversuchen. Wie kam das?
An den einen erinnere ich mich gut. Ich war 20 und mit Freundinnen am beliebten Plage Tahiti in Saint-Tropez. Ich ging über einen kleinen Felsen in eine Bucht, um zu lesen. Vor dem Strand fuhren die Boote hin und her, ich war nicht aus der Welt. Plötzlich war der über mir. Mir wurde klar: Wenn ich Widerstand leiste, würde er mich erwürgen. Ich zeigte nach oben zum Wäldchen, wo es doch viel bequemer wäre. Er stand auf. Ich nahm ihn an der Hand und ging mit ihm hoch. Oben rannte ich schreiend auf der anderen Seite runter.
Wie schafften Sie es, die Nerven zu behalten?
Instinktiv. Aber ich bin davon nicht traumatisiert. Ich hatte mich ja erfolgreich gewehrt.
Jede zweite bis dritte Frau erlebt sexuelle Gewalt – als Kind oder später als Erwachsene.
Ja. Und die Frauen, die verschont bleiben, wissen: Auch ihnen könnte jederzeit etwas passieren. Das prägt die Art, wie man sich als Frau in der Welt bewegt. Diese ausgeübte oder drohende sexuelle Gewalt ist der dunkle Kern des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern.
Das gilt besonders für die Prostitution. Derzeit ist in der Schweiz das Buch «Piff, Paff, Puff» der SonntagsBlick-Autorin Aline Wüst im Gespräch, das aufzeigt: Die Frauen leiden enorm.
Na klar. Sich für einen Schein den Körper und die Seele antatschen zu lassen, diesen Freiern ausgeliefert zu sein, das ist ja auch Horror. Die Frauen werden in der Regel aus Osteuropa oder Afrika herangekarrt, man nimmt ihnen den Pass ab und vergewaltigt sie. Oder sie sind auf Drogen oder Opfer sogenannter Loverboys. In Berlin hat man wegen Corona jüngst Verrichtungsboxen aufgestellt. Man hat dafür Toilettenhäuschen gezimmert. Das ist menschenunwürdig.
Weshalb schaut die Gesellschaft weg?
Prostitution und der damit verknüpfte Menschenhandel sind heute ein noch grösseres Geschäft als Waffen und Drogen. Den Zuhälter von nebenan gibts schon lange nicht mehr. Das sind mafiöse Strukturen. Und Vater Staat kassiert mit, weil die Prostituierten Steuern zahlen.
Warum stören sich auch viele Frauen nicht daran?
Weil auch ihre eigenen Freunde und Männer zu Prostituierten gehen. Das ist hart, das verdrängt man wohl lieber. Wir schickten mal zwei «Emma»-Reporterinnen nach Pattaya in Thailand und veröffentlichten Fotos von Freiern mit Frauen, ohne die Männer unkenntlich zu machen. Die Fotografin wurde in Talkshows eingeladen. Eine aufgebrachte Frau, die ihren Mann erkannt hatte, rief mitten in der Sendung an: Das sei eine Fotomontage, ihr Mann sei doch auf Geschäftsreise in Indien gewesen.
Einzelne Prostituierte erzählen, ihrer Arbeit selbstbestimmt nachzugehen.
Ja, da gibt es ein Trüppchen von sogenannten «freiwilligen Prostituierten», die seit Jahren durch die Fernsehstudios ziehen und sagen, sie täten es gern, ja fänden es «geil». Diese Frauen sind ein Medienphänomen, mehr nicht. Die Prostitution ist der Kern des Machtverhältnisses der Geschlechter.
Was müsste sich ändern?
Mein Ziel ist die Ächtung der Prostitution und Bestrafung nicht nur der Zuhälter, sondern auch der Freier. Mit Bussgeldern, wie in Schweden. Damit sie lernen, dass man keine Frauen kauft.
Schauen wir noch zurück: Bereuen Sie eigentlich etwas?
Manchmal hätte ich mich besser wehren müssen.
Gegen wen?
Frauen.
Wie meinen Sie das?
Die Angriffe von Frauen sind das Schwierigste.
Warum?
Ich erinnere mich an eine Situation mit einer linken Intellektuellen in den 80ern. Die war zehn Jahre älter als ich, was eine Rolle spielt bei dem, was ich jetzt sage. Sie war in einem Alter, in dem Frauen für Männer die Tarnkappe kriegen, unsichtbar werden. Es ging um Pornografie, das Studio war mit Bondage-Fotos dekoriert – pro meine Position. Diese Frau sagte: Ich finde Pornografie geil. Sollte ich sagen: Meine Liebe, es ist schon längst zu spät, dein Mann hat eine Jüngere, du brauchst dich gar nicht mehr anzubiedern?
Verletzt Sie solches Verhalten?
Ich finde es verständlich, dass Männer ihre über Jahrtausende lieb gewordenen Privilegien verteidigen. Aber es ist tragisch, wenn Frauen Feministinnen in den Rücken fallen.
Journalisten nannten Sie eine «Hexe mit stechendem Blick» oder «Nachteule mit dem Sex einer Strassenlaterne».
Das ist lange her. Die nie endende Kritik an mir meint nicht nur mich persönlich. Sie soll die anderen Frauen abschrecken: Guck mal, das machen wir mit einer, die die Klappe aufmacht.
Geniessen Sie es nicht auch, wenn man sich über Sie aufregt?
Da ist etwas dran. Wenn mich jemand dumm anmacht, bringt mich das in Fahrt. Dann gehe ich in den Kampf, das macht Spass. Mit Ihrem Schawinski hab ich mich anno 1998 im Radio angelegt. Eine legendäre Sendung, auf die mich gerade Männer bis heute ansprechen. Schawinski habe ich damals einen Kopf kürzer gemacht. Aber er hat es nicht übel genommen und hat mich wieder eingeladen. Sportlich eben!
Noch einmal zum Bereuen: Wie war das mit dem Schwarzgeldkonto in der Schweiz?
Ich hatte seit den 80ern ein legales Konto in der Schweiz, dessen Zinsen ich allerdings nicht versteuert habe. Das war eine völlig überflüssige Dummheit. Das bereue ich in der Tat. Ich habe dann eine Selbstanzeige gemacht. Ich bin allerdings erstaunt, dass ausgerechnet eine Schweizer Zeitung das fast sieben Jahre später noch einmal thematisiert.
Mit 77 Jahren sind Sie noch immer die Kapitänin bei der «Emma». Wie steht es um die Nachfolge?
Wir haben noch keine gefunden, die es machen kann. Einmal war eine zwei Monate da, machte einen fulminanten Abgang und klagte, sie würde als Mutter nicht angestellt werden. So ein Quatsch. Wir haben zwei Mütter bei «Emma». Anderen wurde der Job regelrecht nachgetragen. Ich glaube, dass es Frauen oft auch Angst macht, an der Spitze eines solchen Blattes zu stehen.
Man munkelt, Sie hätten Probleme, loszulassen.
Was heisst hier loslassen? Wenn die Alice Schwarzer nicht mehr Chefredakteurin ist, ist sie immer noch die Verlegerin. Ausserdem bin ich eine Bestsellerautorin. Ich habe also genug zu tun.
Keine Ruhestandspläne?
Ruhestand? Ich bin so alt wie der aktuelle Präsidentschaftskandidat in Amerika. Ist Picasso in den Ruhestand gegangen? Warum gibt es eigentlich immer wieder Menschen, die finden, Alice Schwarzer sollte sich endlich zur Ruhe setzen?
Sagen Sie es mir.
Ich hab den fiesen Verdacht, dass sie diese lästige Alice Schwarzer loswerden wollen. Da wird aber nichts draus. Das bin ich schon den vielen, vielen Frauen schuldig, denen ich Mut gemacht habe und noch immer mache. Ich halte durch.