«Dieses Video ist dem Berühren gewidmet», heisst es übersetzt im Vorspann des Musikclips zu «Watermelon Sugar». Der Song stammt von Harry Styles (26), ehemals Mitglied der britisch-irischen Boyband One Direction, und steht beim Streamingdienst Spotify auf Platz fünf der meistgehörten Songs dieses Sommers. Das Intro zum Video ist mit einem Datum versehen: 18. Mai 2020.
Rückblickend wirkt das Statement des Videos genauso naiv wie das Gruppenkuscheln am Strand mit Models, das Styles in ihm zelebriert. Nicht, weil für die Teilnehmenden die Gefahr einer Corona-Infektion bestanden hätte – das Video wurde bereits im Januar in Malibu, Kalifornien, abgedreht –, sondern weil alles so unbeschwert wirkt. Am 18. Mai hatten wir gerade mal zwei Monate mit Social Distancing hinter uns. Viele von uns gingen immer noch von einer kurzen Phase aus.
Seither sind bald einmal vier Monate vergangen, in denen sich der kollektive Sinnlichkeitsentzug immer stärker bemerkbar macht. In der Hitparade ist die Kuschelphase längst vorbei. In der Popwelt, die Konsumenten ja immer gibt, was sie nicht haben können, setzen Künstlerinnen und Künstler jetzt ganz unverblümt auf ein Wort mit drei Buchstaben: Sex.
Nass und sprudelnd
Am effektivsten tut das gerade die amerikanische Rapperin Cardi B (27), die mit ihrer Berufskollegin Megan Thee Stallion (25) den Song «WAP» am Start hat. Cardi B, gebürtig Belcalis Almanzar, bricht seit drei Jahren einen Chart-Rekord nach dem anderen. Fast 100 Millionen Mal wurde «WAP», kurz für «Wet-Ass Pussy», in der ersten Woche nach Erscheinen gestreamt. Das dürfte nicht zuletzt dem Video zu verdanken sein, für das Frau B den Refrain zensiert einsingen musste, weil er für Youtube zu «nasty», sprich versaut, gewesen sei, wie sie sagt. Aus «Wet-Ass Pussy» – von der «Süddeutschen Zeitung» elegant mit «tropfnasse Vagina» übersetzt – wurde «wet and gushy», was so viel heisst wie «nass und sprudelnd».
Wie auch immer: Cardi B rühmt sich ihrer «WAP» im gleichnamigen Song auf dieselbe Art, wie das männliche Rapper auch gerne mit ihren primären Geschlechtsmerkmalen tun. Männer, die sich mit ihr paaren wollen, bittet Cardi B, einen Kessel und einen Mopp mitzubringen. Oder besser gesagt: Sie befiehlt es.
Wie ein Kläffer, der ein Bein rammelt
Die expliziten Inhalte sorgten in den USA für Aufruhr. Cardi B und Megan Thee Stallion seien das Ergebnis davon, wenn Kinder ohne Gott und starke Vaterfiguren aufwüchsen, schrieb ein republikanischer Politiker auf Twitter. Er habe den Song aus Versehen gehört und hätte seine Ohren danach am liebsten mit Weihwasser ausgewaschen. An dieser Stelle würde sich ein Witz anbieten über tropfnasse Ohren – aber lassen wir das.
Liberale Stimmen in den USA loben «WAP» als Ode an die sexuelle Selbstbestimmtheit der Frau. Die meisten Amerikaner (und zahlreiche Europäer) widmen sich jedoch einfach dem Einstudieren einer Mini-Choreografie zum Song, die sich in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Videos, meist zu Hause aufgenommen, zeigen im Wesentlichen Menschen, die Stossbewegungen in Richtung Boden vollführen. Vergleichbar mit einem Kläffer, der ein Bein rammelt.
Dieses enthemmte Verhalten passt zu einer Studie des Kingsey Institute in Indiana, USA, für die Menschen zu ihrem Sexualverhalten während der Corona-Pandemie befragt wurden. Ein grosser Teil gibt an, mehr Lust auf Sex zu verspüren als sonst. Die Forscher sehen darin unter anderem die Auswirkungen des Social Distancings, das Menschen in die Privatsphäre zwingt.
Anfassen verboten! Zuschauen und -hören nicht
Als Ventil für unterdrückte Lust dient in diesem Moment offenbar alles, was in irgendeiner Form sinnlich ist und sich mit blossem Auge oder mit den Ohren konsumieren lässt. Kein Wunder hat sich Cardi B das Video zu «WAP» einiges kosten lassen. Laut eigenen Angaben gab sie allein für die dreimal wöchentlich durchgeführten Corona-Tests der Crew, darunter zahlreiche Tänzerinnen, insgesamt 100'000 US-Dollar aus.
Logisch: Nicht jeder fühlt sich vom Dirty Talk vulgärer Rap-Queens angetan. Manch einer geniesst das entschleunigte Leben zu Hause mit seiner Familie, seiner Partnerin, seinem Partner. Und hört dazu vielleicht den neuen Song «Wild» des US-Schmusesängers John Legend (41). Er singt von seinem neuen Cabrio («I just bought a new car. One where the top goes down»), mit dem er seine Frau Chrissy Teigen (34) auf eine Spritztour zum Saturn und in sein Herz nehmen möchte – wie auch immer das gehen soll. («I wanna take you so far. Out past the Saturn rings. And into my heart.»)
Im Video schmust Legend mit Teigen, Model und Kochbuchautorin, in einem Himmelbett im Freien, in einem Infinity-Pool und am Strand – natürlich barfuss. Wilde Pferde tauchen auf, und am Schluss des Clips sieht der Zuschauer die beiden mit ihren zwei kleinen Kindern im Arm verträumt dem Horizont entgegenblicken. Die Kamera zoomt auf Teigens leicht gewölbten Bauch, was zu Gerüchten über eine Schwangerschaft führte, die sie kurz darauf bestätigte. Die Message – Romantik mal zur Seite: «Wir haben den Lockdown genutzt, um ein Baby zu machen. Und ihr so?»
Eine Ästhetik, die an Angebote für Webcam-Sex erinnert
Das sagen die Ergebnisse der Studie eben auch: Dass Menschen in Pandemie-Zeiten plötzlich ihre Sterblichkeit vor Augen haben und das einen Einfluss auf ihr Sexualverhalten haben kann.
Je länger der Lockdown in US-Staaten wie Kalifornien dauert, wo viele erfolgreiche Musiker wohnen, desto stärker macht sich im Pop jetzt auch die Horrorvorstellung bemerkbar, vielleicht gar nie mehr wieder «echten Sex» zu kriegen. R’n’B-Sängerinnen wie Kehlani (25) inszenieren sich in ihren Songs und Videos als einsame, nach körperlicher Nähe gierende Sirenen.
Kehlani stand vergangenen Mai mit ihrem neuen Album auf Platz zwei der US-Charts. Sie veröffentlicht ihre Musikvideos unter dem Schlagwort «Quarantine Style» (Quarantäne-Stil) in der Ästhetik von sogenannten Webcam-Girls-Angeboten, bei denen Frauen für Geld nackt vor der Computerkamera posieren.
Only Fans, ein Anbieter für anzügliche Videoinhalte, verzeichnete laut eigenen Angaben seit Beginn der Quarantäne 75 Prozent mehr Anmeldungen als davor. Die mehrfach für ihre Videos ausgezeichnete FKA Twigs (32) aus England inszeniert sich in ihrem neusten Werk gleich selbst als eine Art Roboter-Version eines Webcam-Girls.
Dann doch lieber gar keinen Sex
Roboter in Menschengestalt scheinen gerade sowieso eine beliebte Projektionsfläche zu sein – schliesslich sind sie garantiert Sars-CoV-2-negativ. Im Video zum Song «Move Ya Hips» des Rappers A$AP Ferg (31), auf dem Nicki Minaj (37) mitrappt, bestellt ein Typ eine Sexpuppe zu sich nach Hause, die er mit einer Fernsteuerung bedienen kann, wie sie bei Game-Konsolen zum Einsatz kommt. So weit so sexistisch.
In der ersten «Liebesnacht» entpuppt sich die Roboterin als eine attraktive Version von «Chucky – die Mörderpuppe» und geht ihrem Käufer an die Gurgel. Der Clip endet damit, dass sie ihn mit Maschinenpistolensalven tötet, die sie aus ihrem Büstenhalter abfeuert. Wenigstens kann das niemandem passieren, der selbstisoliert mit einer Chips-Tüte vor dem Fernseher sitzt.