Countertenor Jakub Jozef Orlinski in Zürich
«Bähh! Du klingst wie eine Frau!»

Der Countertenor Jakub Jozef Orlinski war einst Breakdancer, heute ist er ein Sänger mit Weltruhm: Am Montag gewann er in Berlin den Opus Klassik. Übernächsten Sonntag hat er an Zürichs Opernhaus Premiere.
Publiziert: 22.10.2019 um 10:12 Uhr
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Aktualisiert: 22.10.2019 um 13:23 Uhr
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Nur noch für den Fotografen wirft sich Jakub Jozef Orlinski in eine Breakdance-Pose.
Foto: Anja Wurm

Jakub Jozef Orlinski heisst der junge Mann, stammt aus Polen und liefert richtig Futter für die Glanz- und Gloriapresse. Erst Chorknabe, dann Graffitikünstler, Breakdancer. Skate- und Snowboarder sowieso.

Dazu ist Jakub Jozef Orlinski gut gewachsen. Breitschultrig drahtig. Dunkle Ringellocken fallen in seine Stirn bis hin zur klassisch-römischen Nase. Fans schreiben auf Youtube, er sehe aus wie Michel­angelos David und haben damit – irgendwie – sogar recht. Quasi als Kontrastprogramm dazu ist er Countertenor, also in jenem klassischen Stimmfach zu Hause, das von Lage und Umfang bislang meist von Frauen gesungen wird. Bislang, denn seit einigen Jahrzehnten ­machen Männer damit Furore.

Auch Jakub Josef ersingt sich so eine Weltkarriere. Er hätte also allen Grund, ein wenig stolz, vielleicht auch etwas etepetete zu sein. Aber er sitzt brav, höflich und unauffällig hinter dem kleinen Tischchen in einem Übungsraum des Opernhauses.

König der Barockmusik

Wenn ein Video mit klassischer Musik 4,1 Millionen Klicks macht, zeigt es Besonderes. Es ist der Countertenor Jakub Jozef Orlinski, wie er an einem Sommertag 2017 in Aix-en-Provence eine Arie von Vivaldi singt. Seit diesem Tag ist der 29-Jährige ein Star. Keiner hätte ihm dies nach seinem Master 2012 an der Chopin-Universität in Warschau vorausgesagt. Erst seine ­Ausbildung an der Juilliard School New York machte sein besonderes Talent hörbar und ihn zum neuen König der Barockmusik. Orlinski singt in der Carnegie Hall New York, in Versailles und 2019 an den Festspielen in Glyndebourne. Er ist auch Model für Levi’s und Mercedes-Benz.

Wenn ein Video mit klassischer Musik 4,1 Millionen Klicks macht, zeigt es Besonderes. Es ist der Countertenor Jakub Jozef Orlinski, wie er an einem Sommertag 2017 in Aix-en-Provence eine Arie von Vivaldi singt. Seit diesem Tag ist der 29-Jährige ein Star. Keiner hätte ihm dies nach seinem Master 2012 an der Chopin-Universität in Warschau vorausgesagt. Erst seine ­Ausbildung an der Juilliard School New York machte sein besonderes Talent hörbar und ihn zum neuen König der Barockmusik. Orlinski singt in der Carnegie Hall New York, in Versailles und 2019 an den Festspielen in Glyndebourne. Er ist auch Model für Levi’s und Mercedes-Benz.

Ihre Stimme …
Jakub Jozef Orlinski: … ist jenes Instrument, das in mich – in alle Menschen – eingebaut ist. Singe ich, empfinde ich eine Art perfektes Glück. Es ist die Stimme, der meine Person entspricht. Dabei ist sie doch gar nicht meine natürliche Stimme. Diese ist nämlich ein ­satter, runder Bass-Bariton.

Weshalb singen Sie dann nicht in Ihrer natürlichen Stimmlage?
Das würde ich nie. Es ist nicht die Stimme, die mir entspricht.

Die meisten Countertenöre ­klingen wie Frauenstimmen. ­Sie sind einer der wenigen Countertenöre, die tatsächlich ein ­männliches Timbre haben.
Klassisches Singen ist ein absolut künstlicher Prozess, die Stimme des Countertenors im Speziellen. Trotzdem darf sie nie künstlich klingen. Sie mag speziell, vielleicht sogar sensationell klingen. Aber niemals gekünstelt. Ich habe lange daran gearbeitet, diese männliche «Ecke» drin zu haben.

Ihr Singen beginnt ja in einem Knabenchor.
Ich war gerade mal acht Jahre. Die Chorleiterin wählte mich aus. Ich ging nach Hause, war stolz und ­superglücklich. Ich hatte erstmals etwas Wichtiges bestanden.

Der Ehrgeiz war erwacht.
Was immer ich tat. Ob Roller­blading, Skateboarding, Mit Kreide Graffiti auf die Strasse malen … Alles war stets eine Herausforderung. Ich habe immer hart gearbeitet und suchte immer den Moment, an dem sich die Dinge vorwärtsbewegen liessen. Dieses Gefühl, wenn es ­besser und besser geht, liebe ich bis heute.

Aparte Mischung: Knabenchor, Kickboard, Rap und Breakdance …
Das alles hat mir verschafft, was – so weit ich mich erinnern kann – immer mein allererster Wunsch war: Ich wollte Freunde in einer ­anderen Sprache haben. Mit dem Chor reisten wir, traten überall auf. Meine Strassengang war Teil einer internationalen Streetwork- and Skateboard Company. Auch das passte. Ich wollte das Leben und die Welt treffen!

Das schafft Freunde, aber auch Muskeln, Beweglichkeit …
Klar. Aber wenn Sie denken, dass ich es deswegen tat … denken Sie falsch. Ich wollte etwas erleben. Ich wollte Grinds auf dem Geländer schaffen, (Anm. d. Red.: ein Trick mit dem Skateboard). Das war ­riskant. Es war Adrenalin! Wäre es bloss der Drang, «in shape» zu sein … würden Sie mich täglich im Gym finden. Ich war einmal dort. Nie wieder.

Den Chor besuchten Sie genauso regelmässig?
Es war ein Spiel, genau wie jenes auf der Strasse. Ich traf Kinder ­meines Alters und ältere. Es war neu und aufregend, und ich habe nicht nur singen gelernt. Der Chor hat mir beigebracht, wie man das Leben übersteht. Soziales Ver­halten. Disziplin. Und noch etwas. Ich habe gelernt, wie ich aus Anstrengungen Vergnügen gewinnen kann.

Gelungene Countertenor-Töne sind wie gelungene Hill- oder Kickflips?
Üben, üben, üben! Und wenn das Schienbein, die Hand oder das Herz blutet, macht man weiter.

So kommen Sie bis in die Musikhochschule.
Da wird es schwierig. Ich hatte neun Jahre im Amateurchor ge­sungen. Um die Uniprüfung zu ­bestehen, habe ich mir selbst zwar ­etwas Musikgeschichte und ­Harmonielehre beigebracht, hatte aber im Grunde genommen keine Ahnung. So ging ich zum ­Vorsingen.

… und fielen durch.
Fast schlimmer. Ich wurde aufgenommen, musste aber meine Ausbildung selber bezahlen. Geld hatte ich aber keines. Ein anonymer Geldgeber hat das übernommen. Auch in den folgenden Jahren bestand ich die Prüfungen regelmässig, musste aber trotzdem immer wieder nach einem Sponsor suchen.

Dabei waren Sie doch gut. Vielleicht sogar besser?
Das würde ich nicht sagen. Ein Anfänger-Countertenor klingt nämlich ungefähr so, wie wenn ein Kind mit dem Geigenspiel beginnt. Es muss mit Hand und Fingern, Bogen und Instrument die richtigen Stellungen finden, damit erkennbare Töne entstehen. Es kratzt und quietscht endlos, bevor reine Töne möglich werden. Wir Counter­tenöre müssen auch herausfinden, wo unsere Töne liegen. Das dauert. Manche meiner Kollegen konnten bereits geschmeidige Linien singen. Ich aber war an der Uni noch immer nicht wirklich angenommen. Aber: Ich gebe nicht auf!

Üben, üben, üben …
Klar. Ein Kollege, der Klavier spielt, hat vor der Uni zwölf Jahre geübt. Ich konnte keine Noten lesen, sah bloss ein paar schwarze Punkte. Gingen die rauf, sang ich nach oben. Mir war klar: Ich war nicht vorbereitet. Also lebte ich inzwischen praktisch in der Universität. Am Morgen suchte ich mir ein ­leeres Übungszimmer, übte, lernte. Ich versuchte, meinen Weg zu ­finden, und fand heraus, dass mir genau diese Suche enorme Befriedigung brachte.

Akzeptieren Ihre alten Skateboard-Kollegen Jakub, den Countertenor?
Mein Leben als Countertenor habe ich niemals verborgen. Aber ich habe es auch niemandem erzählt. Mir fehlte das Selbstvertrauen. Was sollte das? Bähhh! Du klingst wie eine Frau! Mag sein, dass ich in ­einem Quartier aufgewachsen bin, in dem man Hip-Hop tanzt und rappt. Jetzt war ich an der Uni. Das wussten sie irgendwie. Sie wussten ja auch, dass ich quasi an drei ­Orten arbeitete, weil ich die Uni bezahlen musste. Von meinen Eltern wollte ich kein Geld. Aber von irgend­etwas musste ich ja leben.

Harte Zeiten.
Diese Welt ist doch für uns alle nicht einfach. Es geschehen viele tolle, fantastische Dinge, aber man muss auch eine ganze Menge Sch... durchwaten!

Ausserdem schlägt das Glück zu, und Sie können nach New York an die weltberühmte Juilliard School. Der Meisterschlag!
Nun ja. Mein Warschauer Lehrer hat mich dort platzieren können. In Europa hatte ich zwar Wettbewerb um Wettbewerb absolviert, aber nicht ein einziges Mal etwas gewonnen. Jetzt war ich in New York und begriff. «Es gibt Platz für alle von euch», hatte mein Mentor stets gesagt. «Wenn du willst, wird es ­geschehen. Und denk dann daran, dass man nicht überall sein kann. Lass deinerseits auch Platz für die anderen!»

Jetzt ist der Applaus der Ihre!
Es geht nicht um den Applaus. Es geht auch nicht um Jakub Jozef ­Orlinski. Es geht darum, dass ich mein Handwerk so gut wie möglich erlerne, verfeinere, verbessere, damit die Zuhörer bei meinem Singen etwas spüren. Manchmal sitze ich selbst in der Oper oder einem Konzert, und die Musik entführt mich in eine andere Welt … Erinnerungen tauchen auf. Dann denke ich: So soll es sein.

Und Kritik?
Ich hatte lange, um diese zu ver­stehen. Aber heute weiss ich: Allen ­gefallen kann man nicht. Magst du das, was ich mache, nicht, hör einfach weg!

Singen ist ein sehr zeitbegrenzter Beruf. Manchmal endet er früher. Mit viel Vorsicht und ­Verstand angegangen, endet er später. Wie halten Sie es damit?
Meine Strategie ist klar. Ich werde nicht lange singen. Das weiss ich, obwohl ich doch gerade damit ­begonnen habe … Unsere Stimme braucht Frische. Unsere Stimme blüht quasi nur eine kurze Zeit. Und die Pflege ist aufwendig. Noch immer übe ich jeden Tag. Wirklich. Ich habe überhaupt keine Lust, ein alter Countertenor zu sein.

Was, bitte, tun Sie danach? So jung, wie Sie sind.
Vielleicht gründe ich ein Festival oder übernehme eins. Ich habe eine ganze Tonne von Ideen.

Also geht es immer weiter mit Neuem, Riskantem, dem ­Abenteuer? Und Familie?
Klar. Das wäre was. Aber nur, wenn ich den Kindern – und ich möchte unbedingt Kinder – ein so toller ­Vater sein könnte, wie es mein Bruder ist. Er ist immer da. Aber ein ­erfolgreicher Sänger zu sein und die Kinder kaum zu sehen ... Das kanns nicht sein.

Jakub Jozef Orlinski, Opernhaus Zürich, 3. November 2019, Händel, «Belshazzar». www.opernhaus.ch

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