Reisen ging diesen Sommer an viele Orte nicht. Ein in dieser Zeit erschienener Bildband entführt uns aber an einen für viele fast schon magischen Sehnsuchtsort – Disneyland. Dabei ist das mit Walt Disney so eine Sache: Die einen lieben seine Charaktere wie Micky Maus, Donald Duck, Goofy und wie sie alle heissen, sind mit ihnen aufgewachsen und empfinden ein Wiedersehen im Erwachsenenalter fast so, als würden sie lang vergessene alte Freunde wiederfinden.
Weder Sex noch sozialer Aufstieg
Andere, wie etwa diverse Kulturwissenschaftler, packt angesichts des erzkonservativen Weltbilds des Disney-Universums das Grauen: Niemand hat je Nachkommen, sondern immer bloss Neffen oder Nichten – niemand hat also je Sex. Und niemand schafft es je dank eigener Intelligenz und Kraft, finanziell oder sozial aufzusteigen, dafür braucht es Glück. Und die Frauenfiguren sind, mit Verlaub, schier unerträglich: Daisy Duck und Minnie Mouse sind in den meisten Fällen unfassbar doofe Tussen, die sich hauptsächlich für Kleidung interessieren und Donald und Micky das Leben mit ihren materiellen oder unvernünftigen Ansprüchen schwer machen. Wenn das Walt Disneys reales Frauenbild war, dann Guetnacht.
Reaktionäre Geschlechterrollen und unverhohlener Materialismus sollen gemäss Kulturtheoretikern und Kritikern, unter anderem von den einflussreichen britischen Zeitungen «Observer» oder «Times», die Werte sein, die Disney bis heute vermittelt. Diverse Klassiker der Weltliteratur wurden zudem vom Disney-Universum «disneyfiziert» und teilweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt: Oder wer weiss, dass die kleine Meerjungfrau aus einem tragischen Märchen von Hans Christian Andersen stammt, Cinderella von den Brüdern Grimm erfunden wurde und eigentlich nicht Cinderella heisst und das ewige Kind Peter Pan bereits vor über hundert Jahren von einem Schotten namens J. M. Barrie ins literarische Leben erweckt wurde?
Tröstliche heile Märchenwelt in der Realität
Trotzdem – bei allem intellektuellen Raub an Geschichten aus diversen Herren Ländern: Wenn das Disney-Logo, das bekannte Schloss mit dem Feuerwerk an der Leinwand oder am Bildschirm erstrahlt, so wissen Zuschauer aus aller Welt, dass etwas Verlässliches auf sie wartet: gute Unterhaltung, Spannungsmomente und zum Schluss eine Ordnung, welche einen versöhnt mit der Welt aus dem Film entlässt. Und so erklärt sich vielleicht auch die Sehnsucht, welche das Logo unbestritten auslöst: nach etwas Magie, Spannung und dennoch heiler Welt.
Ein Stück Magie daheim
Wer das schon lange erkannt oder sogar geplant hatte, war natürlich Walt Disney selber – auch, dass ein realer Ort, über dem das besagte Schloss thront und seine Charaktere sozusagen zum Leben erweckt werden, ein Kassenschlager sein muss. Nach jahrzehntelangem Pläneschmieden eröffnet Walt Disney 1955, vor 65 Jahren, «Disneyland» im kalifornischen Anaheim. Seither strömt die Zuschauerschar zu Micky, Goofy, Cinderella und Co. nach Anaheim – und seit 1992 auch nach Paris. Oder eben, in Corona-Zeiten via Bildband auf dem eigenen Sofa.
Walt Disney's Disneyland, Chris Nichols,
Taschen Verlag, ca. 53 Franken