Ostern ist neben Weihnachten wahrscheinlich die Zeit im Jahr, in der die meisten von uns mit ihrer Familie abhängen (müssen). Man trifft sich, isst zu viel, trinkt zu viel, streitet manchmal. Man hockt regelrecht aufeinander – Abstand findet man höchstens mal kurz im Badezimmer. Nach Ostermontag ist alles vorbei. Was bleibt: ein schlechtes Gewissen ob der ganzen Schlemmerei. Manchmal, mit etwas Abstand, denkt man auch: Hab ich zu oft zu ruppig reagiert? War ich zu undankbar?
So geschehen letzte Woche. Ein von mir sehr geschätzter Kollege fasste im Flur zwischen Regalen und Postfächern Ostern mit dem folgenden Satz zusammen: «Familie ist Hölle.» Wir sprachen über Geschwister, die nicht miteinander sprechen. Erbgeschichten. Über Grossmütter und Väter, die plötzlich nicht mehr sind, wie sie doch sein sollten. Alter und Krankheit. Wir liessen nicht viel Gutes an Ostern – und so einer Familienzusammenkunft.
Und jetzt, mit etwas Abstand, denke ich: Müssen wir solche geballte Familiendröhnungen einfach auf uns nehmen? Familie ist immer da. Beim ersten und letzten Liebeskummer, bei all den Ausbildungs- und Jobwechselfragen und bei all den Streitereien und Nöten hat immer einer eine Couch. Auch wenn die demente Grossmutter, die ständig dasselbe fragt, nervt, sie tat es jahrelang nicht. Auch wenn der Vater jetzt eingeschränkt ist, er war es ein Leben lang nicht.
Der Familie muten wir alles zu. Die Worte, die wir uns an den Kopf werfen, sind gehässiger. Die Vorwürfe, die wir uns machen, sind härter. Das Ich, das wir von uns zeigen, ist ehrlicher. Weil wir wissen, dass man uns verzeiht. Weil wir wissen, dass wir können. Da ist dieses Urvertrauen. Diese Verbindung. Der man auch einmal Belastungen zuschanzen darf. Mehr als sonst wo.
Deswegen, nein, mein geschätzter Kollege, Familie ist nicht Hölle. Familie ist alles.