Die Familie wandelt sich. Letzten Sonntag berichteten wir über Singlefrauen, die sich entscheiden, allein ein Kind zu haben. Es werden immer mehr. Grund dafür sind gesellschaftliche Veränderungen. Berufliche Verwirklichung der Frauen, Geburtenkontrolle, lose Beziehungen und spätes Mutterwerden. Für Frauen Mitte 30 gibt es einen Konflikt zwischen dem Kinderwunsch und ihrer biologischen Uhr. Wer dann keinen Partner an der Seite hat, erfüllt sich immer öfter allein den Wunsch nach Nachwuchs. Dabei sagen die meisten Frauen: «Es war nie mein Traum, alleinerziehende Mutter zu werden.»
Zivilstand der Eltern hat nichts mit Kindeswohl zu tun
Aber was bedeutet das eigentlich für die Kinder? Auf Gesetzesebene ist die Antwort klar. Dort ist der Zugang zur Samenspende heterosexuellen Ehepaaren vorenthalten. Begründung: das Kindeswohl. Mit anderen Worten: Einem Kind ist es nur wohl, wenn es bei Vater und Mutter mit Ring am Finger aufwächst.
«Der Zivilstand der Eltern oder ob eine Mutter alleinerziehend ist, hat nichts mit dem Kindeswohl zu tun», sagt Sabine Brunner, Psychologin und Psychotherapeutin am Marie Meierhofer Institut für das Kind.
Brunner hält fest, dass ein Kind zur Wahrung des Kindeswohls mindestens eine Person braucht, die sich liebevoll, vertraut und verlässlich kümmert. «Mutter, Vater, Grossmutter – wer das genau ist, spielt erstmal keine Rolle.» Wichtig sei, dass das Kind sich an diese Person binden kann und weitere Personen im Umfeld unterstützend da sind, die sich für das Kind interessieren und enge Beziehungen mit ihm eingehen.
Zu enge Beziehung kann Gefahr sein
Philipp Ramming, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie, sieht das nicht so locker wie seine Kollegin Brunner. Zwar sagt Ramming auch, dass die Betreuung kein Problem sei. Doch Fragen zum Kindeswohl würden schon viel vorher beginnen, nämlich mit dem Traum der Mutter, sich ein Kind zu designen. Der Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie stellt klar, dass für ihn Samenspenden bei Alleinerziehenden kein eigentliches Problem darstellen. Aber: Bei «der technisch organisierten Wunschbefriedigung» gelte es, im Sinne des Kindeswohls, einige Hürden zu beachten.
Und das beginne schon beim Wunsch der Frau, allein Mutter zu werden. «Es gibt eine Spannung zwischen dem Traum vom eigenen Kind und der Realität», sagt Ramming. Erträumte Kinder müssten sich, einmal geboren, ihre Individualität und psychische Eigenständigkeit erkämpfen. Und in dieser Situation sei es für ein Kind besonders anstrengend, seine eigene Individualität durchzusetzen. Dies verlange eine hohe Anpassungsfähigkeit aufseiten der Mutter. Und: Es ist kein Partner da, der unterstützt und auch interveniert. Laut Ramming ist es wichtig, dass die Mutter das Kind in die Welt lässt. So kann sich das Traumkind zu einem eigenständigen Wesen entwickeln. Ansonsten könnte diese enge Beziehung eine Gefahr werden.
Dass die grosse Nähe eine Gefahr sein kann, sieht auch Brunner so. Deswegen sei eben ein gutes Umfeld wichtig, das dem Kind auch nahe stehe. Dass es merkt, es gibt mehr als dieses Zweierteam. Das ist wichtig für die Entwicklung des Kindes und für die Mutter. Weil es sie entlastet.
Wie erzählt man dem Kind von seiner Herkunft?
Ramming glaubt, dass die Komplexität für diese Mütter grösser ist und sie sich diverse Überlegungen machen müssen, wie sie damit umgehen wollen. Eine zusätzliche Herausforderung sei, die biologische Abstammung mit dem Kind zu thematisieren. Darüber, wie man so etwas dem Kind sagt, hat sich Brunner, die viele Familien berät, Gedanken gemacht. Wichtig sei erst einmal, dass man es sagt. Denn Brunner spricht bei diesem Thema auch die kinderrechtliche Ebene an. Ein Kind habe das Recht, seine Abstammung zu kennen. Das sei nicht nur sein Recht, sondern auch psychologisch sehr wichtig: Kinder hätten ein grosses Bedürfnis, Sachen zu verstehen, Dinge in Zusammenhang zu setzen. Das Kind soll ein Verständnis für seine Situation bekommen. Diese Überlegungen müsse man sich machen, wenn man sich für eine Samenspende entscheidet.
Weiter rät die Psychotherapeutin, dem Kind so früh wie möglich von seiner Herkunft zu erzählen. Es soll damit aufwachsen und nie ein Geheimnis gewesen sein. «Wir kennen deinen Vater nicht. Ich habe dich ohne ihn bekommen, das geht auch, aber es gibt einen Mann, der dein Vater ist!», wäre eine Möglichkeit. Man solle betonen, dass man das gut und richtig findet – und es auch eine Variante von Familienleben ist. Dass es viele gebe und nicht nur die Variante Papa-Mama-Kind. Daran könne man Erklärungen anschliessen, wie Kinder zustande kommen. Man soll das mit einer Gelassenheit tun und so einen Boden schaffen für Fragen. Offen, einfach und klar – aber ohne das Kind zu überfordern.
Kinder als Projekte
Beide Psychologen sprechen vom Kind als Projekt. Doch dies, so Brunner, treffe nicht nur auf Singlefrauen mit Kinderwunsch zu, sondern sei eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Kinder wurden zu einer stark geplanten Sache. Sie hätten «Projektcharakter». Wir entscheiden uns für oder gegen Kinder, planen, wann und wie wir sie bekommen. Und danach muss das Projekt erfolgreich sein, individuell und speziell gut. Einerseits tue diese Förderung den Kindern gut, andererseits lade sie ihnen auch Erfolgsdruck auf.
Da müssten sich alle Eltern an der Nase nehmen. Egal, ob ihr Kind durch Samenspende entstanden ist oder nicht. Dass man die Kindheit nicht so überfrachtet mit eigenen Vorstellungen. Es würde guttun, so Brunner, wenn wir die Dinge ein wenig mehr geschehen lassen würden.