Oberste Primarlehrerin der Schweiz
«Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr»

Marion Heidelberger (49) ist oberste Primarlehrerin der Schweiz und sorgt sich nicht nur wegen des Spardrucks um die Zukunft unseres Bildungswesens.
Publiziert: 23.08.2017 um 10:46 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 10:05 Uhr
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«Es wäre wichtig, dass mehr Lehrer Migrationshintergrund hätten»: Marion, Heidelberger, in ihrem Schulzimmer in Bülach ZH.
Foto: Valeriano Di Domenico
Benno Tuchschmid

Alle reden über die Schweizer Berufsbildung. Sie gilt als Exportschlager. Über die Volksschule spricht niemand. Wie wichtig ist sie für die Schweiz?
Marion Heidelberger: Das mag jetzt ein wenig hochtrabend klingen, aber ich glaube, dass die ­Stabilität dieses Landes auf dem Prinzip der Volksschule basiert.

Das sind tatsächlich sehr grosse Worte.
Aber es stimmt: Ein Klassenrat, das ist nichts anderes als politische ­Bildung. Damit wird Demokratie gelernt. Die Volksschule ist ein ­Abbild der Gesellschaft.

Nun, so wichtig die Volksschule sein mag, politisch ist sie ein Zankapfel: Fremdsprachenstreit, Lehrplan 21.
Wir spüren, dass eine andere Dynamik da ist, seit die SVP das Thema Bildungspolitik besetzt hat. Früher wurde die Schulpolitik von Experten gestaltet. Heute werden tatsächlich Lehrpläne debattiert, entworfen von Politikern, die eine Schule wollen wie vor 40 Jahren. Das ist schade. Weil es einfach Hafechäs ist. Alles, was früher viel besser gewesen sein soll, entstammt einer verzerrten Wahr­nehmung. Aber man kann es auch ­positiv sehen.

Wie?
Eine Gesellschaft muss sich darüber unterhalten, wie ihre Schule aussehen soll. Es sagt viel über das Selbstverständnis eines Landes aus, wie sie die Schule gestaltet – und auch, wie viele Geld sie dafür ausgibt.

2025 wird es in der Schweiz 13 Prozent mehr Schüler geben. Das entspricht 87'000 Kinder. Viel mehr Geld ausgeben werden wir aber kaum. Der Trend geht in Richtung sparen.
Wissen Sie, wir haben bei der ­Bildung schon oft den Teufel an die Wand gemalt. Bis vor wenigen Jahren war ich trotzdem grundsätzlich zuversichtlich. Aber mittlerweile macht es mir wirklich Bauchweh: Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr.

Und die Lösung lautet: mehr Geld?
Wenn Sie eine Lehrperson fragen, dann geht es nie in erster Linie um den Lohn. Im Kanton Zürich beispielsweise sind die Löhne für junge Lehrpersonen anständig. Aber wenn sie 28 Erstklässler haben und beispielsweise keine Heilpädagogin, dann löscht es ihnen früher oder später ab, und Sie steigen aus.

Wie äussert sich das?
Ein Viertel der Lehrpersonen ist mit einem Bein im Burnout. Diese Zahlen sind gestützt durch die neusten Gesundheits-Studien unseres Verbands. Viele Lehrpersonen retten sich gerade noch so in die Ferien und sind dann erst einmal krank.

Was hilft, wenn nicht Geld?
Geld ist nur ein Faktor. Aber die Rechnung ist einfach. Wenn man in die Vorschul- und Unterstufe viel investiert, kann man nachher langfristig Ausgaben sparen. Das gilt übrigens auch für die Integration von Flüchtlingskindern.

Wie meinen Sie das?
Wenn wir bei der Integration von Flüchtlingskindern sparen, bekommen wir grosse Probleme. Da kommen Kinder mit einer unwahrscheinlichen Lebensgeschichte in die Schule. Trotz meiner grossen Erfahrung braucht es externe Fachpersonen, beispielsweise für traumatisierte Kinder. Grundsätzlich wäre es auch wichtig, dass wir mehr Lehrer mit Migrationshintergrund hätten.

Mehr externe Fachpersonen ­bedeuten höhere Kosten. Also wollen Sie doch einfach mehr Geld.
Nein. Es braucht dringend wieder mehr Anerkennung. In Finnland gibt es strenge Auswahlverfahren für die, die Lehrer werden möchten. Deshalb ist ihr Stellenwert viel höher. Bei uns gibt es viele, die sich denken: Ich gehe mal fünf Jahre ­unterrichten, oder dort könne man gut Teilzeit arbeiten. Das schadet uns enorm.

Sie sind die oberste Primarlehrerin der Schweiz und arbeiten an einer Privatschule. Ist das ein Zufall?
Das hat mit meinen Präferenzen zu tun. Ich wollte immer mit Kindern arbeiten, die nicht ganz einfach sind. Sonderpädagogische Auf­gaben werden heute vermehrt von privaten Bildungsinstitutionen übernommen. Bezahlt werden diese Plätze aber von den Gemeinden, nicht von den Eltern.

Wieso das?
Das ist ein klassisches Beispiel, wie es in der Bildungspolitik manchmal läuft. Es gab vor einigen Jahren ­eine Kehrtwende: Die Politik entschied, dass auch Kinder, die in der Schule Schwierigkeiten haben, in Regelklassen integriert werden sollen. Vielerorts wurden die Kleinklassen aufgelöst. Weg von der ­Separation hin zur Integration. Das ist ja auch ein guter Gedanke, nur war der Hintergrund für diesen Entscheid eben kein pädagogischer, sondern die hohen Kosten in der Sonderpädagogik. Es war also letztlich auch eine Sparübung.

Was war die Folge?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin für die schulische Integration. Aber individuell macht es manchmal Sinn, wenn man gewissen Kindern einen speziellen Rahmen ­bieten kann. Wir sind hier an meiner Schule fast immer zu zweit mit acht Kindern. Das ist eine luxuriöse Situation, aber sie führt zu grossen Erfolgen. Die Volksschule kann heute aus finanziellen Gründen oft die nötigen Rahmenbedingungen nicht zur Verfügung stellen.

Trotzdem: Der Anteil an Privatschülern nimmt bei den Primarschülern generell zu. Er hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Die Bildungswissenschaft­lerin Margrit Stamm sagt, dass das passiert, weil die Volksschule viele Bedürfnisse nicht mehr abdecken kann.
Damit bin ich nicht einverstanden. Die Volksschule wird den Bedürfnissen im grossen Ganzen immer noch gerecht. Nicht zuletzt, weil die Lehrer vieles kompensieren.

Fakt ist: In reichen Gemeinden wie Zumikon an der Zürcher Goldküste liegt der Anteil der Privatschüler bei 26 Prozent. Das widerspricht der Chancengleichheit.
Da machen Sie aber ein weites Feld auf. Chancengerechtigkeit werden wir in der Schule nie komplett hinbekommen.

Wieso nicht?
Schauen Sie sich den Nachhilfebereich oder die Vorbereitungen aufs Gymnasium an. Die, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder in Zusatzprogramme oder stellen eine Privat-Lehrperson an. Klar ist für mich aber auch: Am nächsten kommen wir der Chancengleichheit durch eine starke Volksschule, in der alle im gleichen Zimmer ­sitzen. Egal ob arm oder reich, Schweizer oder Ausländer.

In den kommenden Wochen strömen Tausende Kinder zum ersten Mal in die Schule. Was bedeutet dieser Tag für Sie?
(lacht) Da erlebte ich schon wilde Szenen: Schreiende Kinder, die sofort wieder nach Hause wollten, und heulende Mütter, die ihre Kinder nicht abgeben wollten. Aber generell ist es ein wunderschöner Tag, mit Schülern, die voller Erwartungen und stolz mit ihrem Schulthek ankommen. Und ich bin immer noch ein bisschen nervös. Aber etwas hat sich verändert.

Was?
Früher hiess es: In der 1. Klasse, da beginnt der Ernst. Es gab einen grossen Bruch zwischen Kindergarten und 1. Klasse. Sehr zuungunsten der Kinder. Davon ist man weggekommen. Heute versucht man, sanftere, fliessende Übergänge zu schaffen. Der erste Tag ist deshalb nicht mehr so einschneidend. Und das ist gut so.

Wie haben sich die Erstklässler verändert?
Kognitiv sind sie im Schnitt weiter. Sie kennen die Buchstaben und können rechnen. Aber im emotionalen und sozialen Bereich sieht es anders aus.

Sie sind sozial weniger weit als früher?
Geduld ist beispielsweise bei vielen ein riesiges Manko. Dabei hat es grossen Einfluss auf den späteren Erfolg, ob man sich zurücknehmen kann. Solche Fähigkeiten hat man früher in dem Alter selbstverständlich gelernt.

Woran liegt das?
Ich male nicht gerne schwarz-weiss: Aber ich glaube, heute haben Eltern weniger Zeit für die Kinder. Aus der Motivation heraus, den Kindern trotzdem alles zu bieten, schiessen manche Eltern übers Ziel hinaus. Dieses unmittelbare, sofortige Befriedigen aller Bedürfnisse ist eines der grössten Probleme.

Sie unterrichten Erst- und Zweitklässler. Wie viele Ihrer Schüler haben ein Smartphone?
Fast alle.

Es gibt nichts Unmittelbareres als ein Smartphone.
Ja, da passiert alles sofort. Ich bin da deshalb als Lehrerin oft im Clinch mit mir selber. Wir haben vier iPads im Schulzimmer und nutzen die selbstverständlich. Aber manchmal denke ich auch einfach: Nein, stopp. Ich will nicht alt­modisch sein, aber wenn man den ­Kindern nicht die reale Welt zeigt, nimmt man ihnen viel.

Die Digitalisierung betrifft auch die Lehrkräfte. Der Bildungsforscher Stefan Wolter sagt, dank der Digitalisierung würden bald grössere Klassen möglich sein.
Das sehe ich ganz und gar nicht so. Wenn ich mir überlege, was den Erfolg einer Lehrperson ausmacht, dann steht zuoberst die Beziehung zu den Kindern. Trotz künstlicher Intelligenz: Diesen Teil nimmt mir niemand ab. Ich habe keine Angst, dass ich durch einen Youtube-Film ­ersetzt werde.

Zur Person

Marion Heidelberger (49) ist Vize-Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH und unter anderem zuständig für Sonderpädagogik. Sie war Geschäftsleitungsmitglied des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands und unterrichtet seit 1989 als Primarlehrerin. Zuerst 15 Jahre lang als Klassenlehrerin, danach acht Jahre als Lehrerin für Integrative Förderung in der Flughafengemeinde Kloten ZH. Seit 2012 ist sie an einer privaten Basisstufe tätig. Marion Heidelberger ist Mutter von zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen und lebt in Bachenbülach im Kanton Zürich.

Marion Heidelberger (49) ist Vize-Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH und unter anderem zuständig für Sonderpädagogik. Sie war Geschäftsleitungsmitglied des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands und unterrichtet seit 1989 als Primarlehrerin. Zuerst 15 Jahre lang als Klassenlehrerin, danach acht Jahre als Lehrerin für Integrative Förderung in der Flughafengemeinde Kloten ZH. Seit 2012 ist sie an einer privaten Basisstufe tätig. Marion Heidelberger ist Mutter von zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen und lebt in Bachenbülach im Kanton Zürich.

Bildungs-Reformen

Lehrplan 21
Mit dem ersten gemeinsamen Lehrplan für die Volksschule wollen die Kantone die Bildungsziele harmonisieren. Das Projekt ist politisch umstritten. Bisher haben 17 Kantone den einheitlichen Lehrplan umgesetzt.

Sprachenstreit
Wann lernt ein Schweizer Schüler die erste Landessprache? Und soll er  zuerst Englisch lernen? In der hitzigen Debatte ging es bald nicht nur um den Stundenplan, sondern um Grundwerte der Schweiz.

Integration
Lernschwache Schüler sollen in Regelklassen integriert statt in Sonderklassen separiert werden. Diesem Prinzip folgt die Schule seit ein paar Jahren. Unter Pädagogen und Politikern ist die Umsetzung hoch umstritten.

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