Interview über neues Buch «Kinder wollen»
«Kinder bekommen ist ein radikaler Ausdruck von Hoffnung»

Wann Kinder bekommen, wie oder lieber gar nicht? Philosophin Barbara Bleisch (46) und Rechtsprofessorin Andrea Büchler (51) haben der Kinderfrage ein Buch gewidmet. Im Interview erklären sie, warum diese uns heute so beschäftigt.
Publiziert: 16.05.2020 um 11:19 Uhr
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Aktualisiert: 18.05.2020 um 19:03 Uhr
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SRF-Moderatorin Barbara Bleisch (46, l.) und Rechtsprofessorin Andrea Büchler (51) haben sich im Buch «Kinder wollen» der Kinderfrage gewidmet.
Foto: Nathalie Taiana
Rebecca Wyss

SonntagsBlick: Kinder sind mehr Thema denn je: Ob man sie in die Krippe gibt oder sich für ein Leben als Hausfrau- oder -mann entscheidet. Oder wann man sie bekommt. Warum bewegt das Thema Kind uns so?
Barbara Bleisch:
Früher bestimmte das Schicksal über die Kinderfrage. Heute ist es meist ein bewusster Entscheid, ob, wann und mit wem wir Kinder wollen – oder auch nicht wollen. Die Reproduktionsmedizin verschafft uns neue Möglichkeiten.

Frauen können mit über 60 Jahren Kinder bekommen. Ist nicht zu viel möglich?
Bleisch: Manche haben die Sorge, dass ein Machbarkeitswahn sogar dazu führen könnte, dass man perfekte Kinder will. Dass die Demut zu kurz kommt. Die Einsicht, dass wir nicht «Gott spielen» sollen, sondern anerkennen, dass Kinder zu bekommen immer etwas Unplanbares an sich hat.

Das sehen viele so.
Bleisch:
Ja, aber die Geschichte zeigt auch, dass wir zu allen Zeiten versucht haben, Schicksal und Natur in ihre Schranken zu weisen. In keiner Phase der Menschheit sagte man: Wir nehmen alles demütig an, Unwetter, Erdbeben, Seuchen und Krankheiten. Man versuchte immer, sich an der Natur abzuarbeiten und Schicksalsschläge in den Griff zu bekommen.

Deshalb muss man noch lange nicht alles erlauben.
Andrea Büchler:
Das sagen wir auch nicht. Es ist eine sehr persönliche Frage, ob und wann Kinder zu einem gelungenen Leben dazugehören. Kommt die Reproduktionsmedizin ins Spiel, müssen wir aber als Gesellschaft darüber diskutieren, wie weit unsere Freiheit reicht.

Die Rechtsprofessorin

Andrea Büchler (51) ist seit 2002 Rechtsprofessorin an der Universität Zürich. Sie forscht und lehrt insbesondere in den Bereichen des Familien- und Medizinrechts. Dazu gehören auch das Recht der Reproduktionsmedizin und der Humangenetik. Seit 2016 ist sie Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK). Das Gremium erarbeitet Stellungnahmen zu bioethischen Fragen. Dieses Interview gibt ihre persönliche Meinung wieder. Büchler lebt mit ihrem Lebenspartner und ihren beiden Töchtern in Zürich.

Andrea Büchler (51) ist seit 2002 Rechtsprofessorin an der Universität Zürich. Sie forscht und lehrt insbesondere in den Bereichen des Familien- und Medizinrechts. Dazu gehören auch das Recht der Reproduktionsmedizin und der Humangenetik. Seit 2016 ist sie Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK). Das Gremium erarbeitet Stellungnahmen zu bioethischen Fragen. Dieses Interview gibt ihre persönliche Meinung wieder. Büchler lebt mit ihrem Lebenspartner und ihren beiden Töchtern in Zürich.

Manche geben Unsummen für künstliche Befruchtungen aus. Warum ist der Kinderwunsch bei vielen so stark?
Büchler:
Wenn man Eltern fragt, warum sie Kinder wollten, haben viele keine Antwort. Der Kinderwunsch gleicht einer Mischung aus Sehnsüchten und Vorstellungen davon, wie wir leben wollen. Man weiss ja auch gar nicht genau, was mit der Elternschaft auf einen zukommt. Elternschaft ist ein Wagnis und ein Abenteuer.
Bleisch: Kinder zu bekommen ist vielleicht auch ein radikaler Ausdruck von Hoffnung. Wir setzen keine Kinder in die Welt, wenn wir nicht glauben, dass es irgendwie weitergeht. Endo Anaconda hat kürzlich gesagt, dass ihn die Vorstellung, dass die Welt morgen untergeht, bedrücken würde. Das Vertrauen darauf, dass es nach unserem Leben auf unserem Planeten weitergeht, ist für viele tröstlich. Auch die Vorstellung, dass meine Kinder mich überleben werden.

Die Welt verändert sich aber, die Zustände spitzen sich mit Corona und Umweltproblemen zu. Sollte man eigentlich überhaupt noch Kinder bekommen?
Bleisch:
Wenn man die Leute auf der Strasse fragen würde: «Bist du froh, dass man dich in diese Welt gebracht hat?», würden die allermeisten wohl Ja sagen. Es gibt auch Leute, die argumentieren, dass es aus ökologischen Gründen egoistisch ist, Kinder zu bekommen.

Kinder als Klimasünde.
Bleisch:
Droht dann nicht die Gefahr, dass wir auch fragen: Welches Kind bringt der Gesellschaft am meisten? So dürfen und wollen wir nicht auf Kinder schauen. Es wollen aber auch nicht alle Kinder haben. Frauen ohne Kinderwunsch kämpfen heute dafür, nicht als kinderlos bezeichnet zu werden, sondern als kinderfrei. Um sich dagegen zu wehren, dass sie als defizitär angesehen werden.

Wie ist es eigentlich für Männer?
Bleisch:
Beim Mann rechnet man weniger damit, dass ihn die Kinderfrage umtreibt. Deshalb hat die bekannte US-Schriftstellerin Rebecca Solnit sie auch die «Mutter aller Fragen» genannt.
Büchler: Beim Mann ist es eine permanent offene Frage. Er muss sich nie definitiv entscheiden. Bei der Frau drängt sie sich oft im Lauf des Lebens auf und muss irgendwann entschieden werden, die biologische Uhr tickt. Noch ein anderer Grund erklärt den Geschlechterunterschied mit Blick auf diese Frage …

Welchen meinen Sie?
Büchler:
Lange Zeit war Erziehung eine Gemeinschaftsaufgabe der Grossfamilie von Tanten, Grosseltern, Ammen und Mägden. Mit der Industrialisierung und der Entwicklung hin zur Kleinfamilie mit Mutter, Vater und Kindern änderte sich das. Die Frau hatte nun eine ganz spezifische Rolle zu erfüllen. Erst in dieser Zeit kamen die Betonung der Mutterliebe und die Rede vom Mutterinstinkt auf. Man erwartet heute nach wie vor, dass Frauen Kinder wollen.
Bleisch: Unser Buchtitel «Kinder wollen» hätte für die Generation meiner Mutter noch nicht gepasst. Ob man überhaupt Kinder will, fragten sich die Frauen damals kaum. Bis in die 1970er-Jahre gab es keine sichere Verhütungsmethode. Heute ist es die Gretchenfrage in einer Beziehung: Willst du Kinder?

Warum entscheiden sich immer mehr dagegen? Um 1900 hatte eine Frau in der Schweiz im Schnitt 3,7 Kinder, heute sind es um die 1,6.
Büchler:
Soziologische Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Geburtenrate und Familienpolitik auf. Dabei stehen immer wieder die skandinavischen Länder im Fokus. Schweden etwa hat eine Familienpolitik, die sich am Doppelverdienermodell orientiert. Der Staat sorgt für eine umfassende Kinderbetreuung mit Ganztagesschulen und langer Elternzeit. Die Schweiz hat eine eher individualistische Familienpolitik. Die Verantwortung liegt bei den Familien, die staatliche Intervention ist eher bescheiden. Wobei es in jüngerer Zeit familienpolitische Massnahmen vermehrt auf die politische Agenda schaffen.

Mit dem Vaterschaftsurlaub tun wir uns noch schwer. Deutschland hat eine Elternzeit von bis zu 24 Monaten, wir streiten um zwei oder vier Wochen für Väter.
Bleisch:
Oft sind es männliche Politiker, die dafür plädieren, dass Kinderbetreuung Privatsache ist. Die Arbeit innerhalb der Familie machen dann aber die Frauen. Es ist einfach, Grosszügigkeit auf dem Buckel der anderen zu fordern.
Büchler: Wir leben in einer modernen Gesellschaft mit einer hohen Erwerbsquote und einem hohen Bildungsstand bei den Frauen. Aber gewisse Elemente halten sich hartnäckig: Dass Frauen viel häufiger Teilzeit arbeiten und den grösseren Teil der unbezahlten Arbeit übernehmen.

Vielleicht ist es auch ein Wohlstandsproblem? Wir können es uns leisten, dass ein Elternteil Teilzeit arbeitet.
Bleisch:
Schweden nagt auch nicht am Hungertuch. Bei uns ist das Frauenbild konservativer, als es in Schweden ist. Es gibt viel verdeckten Sexismus.

Das Parlament berät demnächst die Samenspende. Heute ist sie nur heterosexuellen Ehepaaren erlaubt. Warum ist das nicht gerechtfertigt, wie Sie in Ihrem Buch schreiben?
Bleisch:
Das Verbot für gleichgeschlechtliche Paare ist klar eine Diskriminierung. Es gibt keine einzige Studie, die zeigt, dass sich gleichgeschlechtliche Elternschaft negativ auf das Kindswohl auswirkt.

Was ist, wenn das Kind wissen will, von wem es abstammt?
Büchler:
Die Schweiz gehörte zu den ersten Ländern, die die anonyme Spende verboten hat. Bei uns hat das Kind mit 18 Jahren das Recht zu erfahren, wer der Erzeuger ist. Das ist auch richtig. Genetische Herkunft ist ein wichtiger Puzzlestein unserer Identität.
Bleisch: Genau das spricht dafür, die Samenspende in der Schweiz für alle zuzulassen. Jetzt weichen die Frauen ins Ausland aus und können dort unter Umständen eine anonyme Spende in Anspruch nehmen.

Vermehrt entscheiden sich Schweizer Single-Frauen für eine Samenspende im Ausland. Das ist einerseits eine feministische Errungenschaft. Andererseits wird kritisiert, dass das Kind ohne Vater aufwächst. Wie sehen Sie das?
Büchler:
Wenn man ein klassisches Bild von Familie im Kopf hat, mag das stimmen. Aber auch solche Kinder können männliche Bezugspersonen haben: Paten, Onkel, Freunde der Mutter. Bezugspersonen müssen nicht zwingend genetisch verwandt sein.
Bleisch: Was bei dem Egoismus-Vorwurf vergessen wird: Die meisten Frauen entscheiden sich erst für eine Single-Mutterschaft, wenn sie keinen Partner finden, der zur Elternschaft bereit ist.

Würden Sie auch die Eizellenspende erlauben?
Büchler:
Ja, ich würde eine Regelung befürworten, die die Spenderin vor Ausbeutung schützt. Es gibt keinen Nachweis, dass Kinder aus einer Eizellenspende gefährdet wären. Das wird oft behauptet. Die Ungleichbehandlung der Samenspende und der Eizellenspende wird auch als Diskriminierung der Frau gesehen: Ist der Mann zeugungsunfähig, kann das Paar Hilfe beanspruchen. Ist die Frau unfruchtbar, nicht.

Müssen wir als Gesellschaft unser Bild vom erfüllten Leben, das nur mit Kindern möglich ist, revidieren?
Büchler:
Wir sollten unbedingt die Vielfalt von Lebensentwürfen anerkennen. Für viele ist die Reproduktionsmedizin ein Segen. Dennoch können Paare auch unter Druck kommen, auf dem Weg zum Wunschkind alles zu versuchen.

Ich kenne Paare, die sich deswegen getrennt haben.
Bleisch:
Das Bild, dass Kinder automatisch mehr Lebensglück bedeuten, ist zu einfach. Im Alter sagen viele, dass ihre Kinder das Beste im Leben gewesen seien. Eltern mit kleinen Kindern hingegen sind oft unzufrieden, weil sie gestresst sind. Zumal sie heute Kinder und Arbeit vereinbaren sollen.

War für Sie immer klar, dass Sie Kinder bekommen?
Bleisch:
Ich habe mein Leben nicht geplant. Aber ich bin glücklich, dass sich vieles gut gefügt hat. Dazu gehören auch meine Kinder, die mein Leben in vielerlei Hinsicht bunter, reicher und tiefer machen.
Büchler: Was heisst schon klar? Die Frage nach den Kindern hat trotz aller Planbarkeit etwas, was sich so einfach gar nicht bedenken lässt. Das ist auch gut so. Wunderbar ist es, dass es meine Kinder gibt.

Das Buch zum Thema: «Kinder wollen»

Früher hat das Schicksal über die Kinderfrage entschieden. Heute bestimmen wir oft selbst, wann, wie und ob wir überhaupt ein Kind bekommen. Die Reproduktionsmedizin macht das möglich. Philosophin Barbara Bleisch und Rechtsprofessorin Andrea Büchler widmen sich mit dem Buch der Kinderfrage. Es erscheint am 25. Mai 2020.

«Kinder wollen», Carl Hanser Verlag, München 2020, ab 29.90 Franken.

Früher hat das Schicksal über die Kinderfrage entschieden. Heute bestimmen wir oft selbst, wann, wie und ob wir überhaupt ein Kind bekommen. Die Reproduktionsmedizin macht das möglich. Philosophin Barbara Bleisch und Rechtsprofessorin Andrea Büchler widmen sich mit dem Buch der Kinderfrage. Es erscheint am 25. Mai 2020.

«Kinder wollen», Carl Hanser Verlag, München 2020, ab 29.90 Franken.

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