Gemeinsames Lesen ohne Zwang
«Tschick» macht Schule

Braucht die Schweizer Volksschule eine Liste mit Pflichtlektüre? Autor Lukas Bärfuss meint Ja, Bildungspolitiker sind dagegen. Eine Studie zeigt nun: Auch ohne staatliche Anweisung gibt es bereits einen Konsens über Bücher, die ins Klassenzimmer gehören.
Publiziert: 15.01.2019 um 16:03 Uhr
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Bei der Lehrerschaft bevorzugt: Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) mit seinen Werken «Der Besuch der alten Dame» und «Der Richter und sein Henker».
Daniel Arnet

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss (47) beklagt das Fehlen einer gemeinsamen Lektüreliste im Lehrplan 21 der Schweizer Volksschulen. «Jeder liest für sich», schreibt Bärfuss im letzten SonntagsBlick; er befürchtet, dass damit das gemeinsame Leseerlebnis verloren gehe.

Doch selbst wenn es keine staatlich verordnete Liste gibt: Zumindest im Unterricht der Sekundarstufe liegen häufig die gleichen Bücher auf den Pulten. Und manchmal sind es sogar die gleichen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit lesen würden.

Das zeigt ein exklusiver Einblick in die Studie Texte, Aktivitäten und Motivationen im Literaturunterricht der Sekundarstufe I (Tamoli), die den Lese- und Literaturunterricht der 8. und 9. Klassen in der deutschsprachigen Schweiz und Deutschland untersucht.

72 Prozent literarische Text im Unterricht

Im SonntagsBlick monierte Bärfuss noch: «Die Lehrer dürfen mit ihren Schülern lesen, was sie wollen. Es müssen nicht einmal Bücher sein.» Doch die Studie, von der erste Ergebnisse vorliegen, zeigt nun: Trotz bereits bestehender Wahlfreiheit der Lektüre sind 72 Prozent der eingesetzten Texte Romane und andere literarische Formen.

«Es ist nicht zu befürchten, dass wegen des Lehrplans 21 weniger literarische Bücher gelesen werden», sagt Andrea Bertschi-Kaufmann, die als Professorin für Deutsch und Deutschdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz das Projekt Tamoli leitet. «Im Gegenteil: Literatur erhält im Lehrplan einen wichtigen Platz.» 

Lehrer lieben Dürrenmatt, Schüler Rowling

Gemäss der Studie verwenden die 58 befragten Lehrpersonen aus sieben Kantonen im Deutschunterricht am häufigsten Friedrich Dürrenmatts Theaterstück «Der Besuch der alten Dame» (1956) oder seinen Roman «Der Richter und sein Henker» (1951), gefolgt von Morton Rhues «Die Welle» (1981) und Wolfgang Herrndorfs «Tschick» (2010) – allesamt literarische Werke.

Der Schaffhauser FDP-Regierungsrat Christian Amsler (55), Vater des Lehrplans 21, darf also zu Recht zu BLICK sagen: «Ich habe grösstes Vertrauen in die Lehrpersonen.» Ein Vertrauen, das auch Bärfuss teilen darf, denn sein verehrter Gottfried Keller (1819–1890) ist mit der Novelle «Kleider machen Leute» (1874) im Deutschunterricht hoch im Kurs.

Und manchmal treffen sich sogar die Vorlieben von Lehrern und Schülern: Zwar bevorzugt die Mehrheit der 1234 befragten 15-Jährigen in der Freizeit «Harry Potter» von Joanne K. Rowling (53), doch zumindest bei den Schülern des progymnasialen Schultyps A ist auch «Tschick» von Herrndorf in den Top 3 – eine bevorzugte Schullektüre der Lehrer.

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