Jan (9) hat von gestern Blateren an den Füssen und rennt trotzdem mit seinen Gschpänli im Wald herum. Einer seiner Kollegen streichelt einen Hund, der mit seinen Besitzern vorbeikommt, andere stauen das Flüsschen ein paar Meter weiter unten. Primarlehrerin Anna Hardegger (30) ruft an einem Dienstag um 10 Uhr vormittags zum Znüni. Es gibt über dem Feuer geschmolzenes Schoggifondue mit Früchten, welche die Schüler einer dritten und vierten Primarschulklasse vorher geschnetzelt haben.
Wortschatz erweitert, Koordination geübt, interagiert – alles aufs Mal
Nachdem jeder seinen Magen voll und seinen Becher im Fluss geschwenkt hat, gibts eine Unterrichtseinheit. Jedes Kind erhält ein Kärtchen, auf dem Adjektive stehen, etwa «schwer», «leicht», «spitz» oder «stumpf». Nun gilt es zunächst, das Gegenteil zu suchen. «Bisch du stumpf?» – «Nei, ich bin schwer», lauten die Dialoge, bis jedes Kind seinen Gegenpart gefunden hat.
In einem zweiten Schritt sollen die Kinder im Wald Gegenstände suchen, die entweder hart oder weich, hell oder dunkel, gross oder klein, oder wie die Adjektive auch immer heissen, sind. Die Kinder sind mit Feuereifer bei der Sache, verweilen bei Schneckenhäusern, Blättern, Ästen, Baumrinden, Kohlestücken und tragen erstaunliche Berge von Material zusammen. Dieses wird in einem dritten Schritt in der Gruppe geordnet.
Insgesamt haben die Schüler also die Begriffspaare unzählige Male gehört und in verschiedenen Situationen angewendet und mit Händen und Augen, also taktil und visuell, erfahren, sie haben sich dabei bewegt und sozial interagiert. Sie haben so in einer Art und Weise gelernt, wie es schon der viel zitierte Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) vor über zweihundert Jahren für ideal erklärte: mit Herz, Hand und Kopf. Und nicht nur das: Die Schüler waren hierfür in der Natur, haben frische Luft eingeatmet und via Sonnenstrahlen auf dem Hin- und Rückweg lebensnotwendiges Vitamin D gebildet – woran es übrigens gemäss Gesundheitsstudien des Bundesamts für Gesundheit über der Hälfte der Schweizerischen Bevölkerung, auch Kindern, mangelt. Und Vitamin D ist bei Kindern für das Wachstum des Skeletts, für Knochen- und Muskelaufbau besonders wichtig.
Die Kinder mussten zudem zusammenarbeiten, um zu ihrem Znüni zu kommen, haben also feinmotorische Tätigkeiten ausgeführt und gelernt, in der Gruppe zu funktionieren. Und was im Deutsch funktioniert, funktioniert auch in der Mathe: Grösser/kleiner-Vergleiche, Schätzungen oder auch ganz banales Kopfrechnen klappt im Wald genauso oder sogar besser als im Schulzimmer.
Eine Stunde Bewegung pro Tag brauchts – eigentlich
Wie anders ist dort in der Regel ein normaler Schultag: drinnen stillsitzen, auswendig lernen, zuhören, selbständig arbeiten, noch länger stillsitzen – von unseren Kindern wird in der Schule viel verlangt, nicht nur was den Schulstoff betrifft. Dabei sind Wissenschaftler sich einig: Mindestens eine Stunde pro Tag sollten sich Kinder und Jugendliche für eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung bewegen.
Und um frisch im Kopf zu bleiben und überhaupt lernen zu können, braucht es Sauerstoff. Gelüftet wird im Schulzimmer meist für zehn Minuten in der Pause, in städtischen Gebieten kommt zudem die Feinstaubbelastung hinzu. Und in Zeiten von Covid-19 wäre Frischluftzufuhr und weitaus häufigeres Lüften essentiell, um die Ansteckungsrate möglichst zu senken. Also warum nicht gleich ganz draussen unterrichten?
Bei der Bewegung sieht es noch schlimmer aus. 85 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in der Schweiz bewegen sich gemäss einer Studie der World Health Organisation von 2019 drastisch zu wenig. Ein Blick auf den Stundenplan eines Drittklässlers im Kanton Zürich zeigt auch, warum: Magere zwei Lektionen Turnen und eine Lektion Schwimmen stehen darauf. Gelernt wird zumeist im Schulzimmer. Kommt der digitale Wandel hinzu, also Gamen und Social Media als sitzend oder liegend ausgeführte Zeitfresser, so zieht man sich eine Nation von Bewegungsmuffeln heran. Mit Folgen: Die Zahl der suizidgefährdeten Kinder und Jugendlichen steigt in den letzten Jahren rasant an, die Jugendpsychiatrie-Notfallstationen haben teilweise Platzmangel.
Obwohl Bewegungsmangel sicher nicht der einzige Grund hierfür ist, so kann er doch psychische Beschwerden verschärfen. Schliesslich wusste nicht nur Pestalozzi, dass zum Lernen mehr als nur der Kopf gehört, sondern auch schon die alten Griechen: «Mens sana in corpore sano» – ein gesunder Geist, oder eine gesunde Seele, lebt in einem gesunden Körper.
Konzentration funktioniert draussen besser – und dem Gemüt tut Grün gut
Es wäre so einfach, dem Bewegungsmangel Abhilfe zu schaffen. Zumindest in der Schule. Die Stiftung SILVIVA – eine Wortschöpfung aus «silva», lat. «der Wald», und «viva», «das Leben» – will in Zusammenarbeit mit dem WWF Schulen dafür sensibilisieren, regelmässige Waldtage oder Tage unter freiem Himmel zu veranstalten. Der vielfältige Nutzen liegt auf der Hand: Seit geraumer Zeit empfehlen etwa Psychiater und Psychologen bei Depressionen Bewegung und Aufenthalte in der Natur – insbesondere im Wald, denn die Farbwirkung von vielfältigem Grün wirkt entspannend, stimmungsaufhellend und beruhigend – genauso wie Bewegung und Sonnenlicht. Und was für Erwachsene gilt, gilt natürlich auch für Kinder.
Aber auch sonst ist die Studienlage mittlerweile klar: So zeigen etwa drei unterschiedliche internationale Untersuchungen und Experimente im Zeitraum von 2001 bis 2015, dass sich Erwachsene und Kinder in natürlicher Umgebung länger und besser konzentrieren konnten als Vergleichsgruppen, die sich in normalen Innenräumen oder Schulzimmern befanden. Kognitive Tests zeigten: Lerneffekte hielten länger an und waren besser, nachdem Kinder draussen unterrichtet worden waren.
Weitere gross angelegte Studien, von Chicago über Norwegen bis nach Barcelona, belegten: Das im Blut getestete Stresshormon Cortisol senkte sich bei Kindern, welche im Wald lernten, im Vergleich zu Kontrollgruppen signifikant. Eltern von Kindern, welche im Wald unterrichtet wurden, berichteten zudem von einer grösseren Selbstdisziplin ihrer Kinder und einer verringerten Hyperaktivität – auch bei Kindern, die mit dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) diagnostiziert waren. «Lernen in der Natur führt zu einem kombinatorischen positiven Effekt» sagt Rolf Jucker, Geschäftsführer der Stiftung SILVIVA.
Langes Sitzen ist gegen die Natur von Kindern
All das bestätigt Lehrerin Anna Hardegger: «Der Waldtag macht den Kopf frei, stärkt die soziale Interaktion der Kinder, das Verständnis für die Natur sowie Körpergefühl und Koordination. Es macht ihnen den Kopf frei. Sie müssen sonst so viel sitzen, das ist gegen die Natur von Kindern. Schule ist nicht nur Stoff lernen.»
Mehraufwand hat sie nur wenig: «Zu tun gibt eigentlich hauptsächlich Organisatorisches, also die Koordination mit Fachkräften wie Heilpädagogen oder Therapeuten und die Anschlüsse an Anschlussfächer wie Religion.» Und wenn es in Strömen regnet? «Dann gehen wir trotzdem», sagt Hardegger, «wir machen dann einfach viel mit Bewegung, damit die Kinder nicht frieren.» Der Waldtag sei der Lieblingstag ihrer Woche – und auch der der meisten Schüler.
Entlastung für Lehrer, Kopf frei für Schüler
Bleibt nur die Frage: Warum gehen eigentlich nicht alle Schulen mit ihren Kindern für mindestens einen Tag pro Woche in den Wald? Rolf Jucker von der Stiftung SILVIVA weiss Antwort: «In den letzten hundert Jahren war es normal, dass Schule drinnen stattfindet. Wissenschaftliche Studien besagen zwar seit mindestens zehn Jahren, dass Lernen in freier Natur effektiver geht – aber das Bildungswesen ist ein sich langsam veränderndes System.» In Österreich, Frankreich und Dänemark seien sie zudem weiter als in der Schweiz: «Dort empfiehlt die Bildungsdirektion offiziell, dass Lehrpersonen mit ihren Schülern möglichst viel Zeit im Freien verbringen sollen.» Die Schweiz sei hingegen eher ein konservatives Land und deshalb etwas langsamer in der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Viele Lehrer seien vielleicht auch etwas reformmüde.
Dabei biete das Lernen im Wald eigentlich auch für Lehrer Entlastung – auch weil SILVIVA ein Lehrmittel entwickelt hat, welches Lehrpersonen der Primarstufe einfach zücken können: «Draussen unterrichten» verkaufe sich hervorragend, bestätigt auf Anfrage der herausgebende hep-Verlag.
Jan und seinen Gschpänli ist das alles egal: «Waldtag ist super!», sagt er, bevor er und die andern helfen, Becher und den Kochtopf im Wägeli zu verstauen. Und Lehrerin Hardegger findet: «Ich würde allen Schülern der ganzen Schweiz mindestens einen Waldtag pro Woche wünschen.»