Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm über das anstrengende Familienleben
«Früher wars Schicksal, heute gibt man den Eltern die Schuld»

Familie zu sein ist anstrengender und anders als früher, sagt Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften – und erklärt, was sich aus ihrer Sicht ändern muss.
Publiziert: 17.11.2020 um 11:33 Uhr
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Aktualisiert: 17.11.2020 um 21:23 Uhr
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Väter können genauso liebevoll und kompetent im Umgang mit Kindern sein, wie Mütter.
Foto: Mencare Schweiz / Johan Bävman
Silvia Tschui

In Schweizer Familien kam es in den letzten drei Jahrzehnten zu einer Revolution. Das sagt Margrit Stamm (70), Professorin für Erziehungswissenschaften und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education. Sie hat für ihr jüngstes Buch «Du musst nicht perfekt sein, Mama» über 300 Paare zu ihrem Alltag befragt.

Früher war der Vater der Ernährer und die Mutter für Kinder und Haushalt zuständig. Bei rund 20 Prozent der Schweizer Familien sei das heute gemäss Stamm noch immer so. Was bei den anderen achtzig Prozent neu dazugekommen ist: Frauen arbeiten ebenfalls, meist Teilzeit. Trotzdem, und das zeigt Stamms Studie auf, übernehmen Frauen den Löwenanteil an der Erziehungs- und Hausarbeit. Sogar wenn sie, wie ihre Männer, zu hundert Prozent berufstätig sind und in anspruchsvollen Berufen arbeiten.

Frauen haben und geben sich selbst Druck

Frauen stehen also unter immensem Druck, sagt Stamm, insbesondere weil sich auch in der Gesellschaft Werte verschoben haben: «Wenn ein Kind nicht ‹recht› herauskommt, war das früher oftmals einfach Schicksal. Heute gibt man den Eltern die Schuld – insbesondere den Müttern.» Aber auch Väter haben es gemäss Stamm viel strenger als früher. Zum einen reiche ein Gehalt heutzutage in vielen Familien kaum mehr aus, um diese zu ernähren. Zum Druck in der Arbeitswelt kommt so ein gesellschaftlicher hinzu, wenn man die erwartete Ernährerrolle nur bedingt einnehmen kann.

Zum anderen, sagt Stamm, wollen Väter sich viel stärker bei ihren Kindern einbringen als frühere Generationen – und tun dies auch. Oftmals, sagt Stamm, würden Frauen ihnen dabei aber im Wege stehen: «Frauen sind seit frühester Kindheit darauf konditioniert, fürsorglich zu sein. Sie trauen deshalb ihren Männern oft keinen ‹vernünftigen› Umgang mit ihren Kindern zu. Männer können dann nicht einmal ein Fläschchen im richtigen Winkel halten.» Die dauernde Kritik führe dazu, dass Frauen ihre Männer zu reinen Befehlsempfängern degradierten – und diese sich in der Folge zurückziehen würden. Worauf sich Frauen dann wieder ärgern, dass ihre Männer nicht richtig mit anpacken. «Hier müssen Mütter sich selbst an der Nase nehmen», sagt Stamm.

In der Wirtschaft herrschen verkrustete Strukturen

Eine Lösung des Alltagsdilemmas von Familien sieht Stamm in der näheren Zukunft: «Noch haben wir in Firmen oft verkrustete Strukturen. In Chefetagen sitzen oft ältere Männer, die ein traditionelles Familienleben erlebt haben und einfach annehmen, dass hinter ihren männlichen Arbeitnehmern automatisch eine Frau steht, die ihnen den Rücken freihält.» Hier müsse und werde ein Bewusstseinswandel geschehen.

Auch unsere Familienpolitik, sagt Stamm, sei verfehlt: «Wir schauen einseitig auf Frauenthemen wie genügend Krippenplätze. Damit veranstalten wir reine Frauenförderung und vergessen die Väter. Auch für sie müsste es Angebote geben, etwa vermehrt Teilzeitstellen, die auch als karriereförderlich gelten.»


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