«Er ist ein Engel»
«Baby-Buddys» an Schweizer Kinderspitälern

Hanny Seewer (76) ist eine von über hundert Freiwilligen, die in Spitälern Kindern für ein paar Stunden Gesellschaft leisten. Wenn die Rentnerin in die wachen Augen von Emil (2) blickt, vergisst sie die schlimmen Geschichten, die sie im Leben gehört hat.
Publiziert: 23.12.2018 um 16:14 Uhr
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Aktualisiert: 08.01.2019 um 13:29 Uhr
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Hanny Seewer mit Emil vor dem Reha-Zentrum für Kinder in Affoltern am Albis ZH.
Foto: Thomas Meier
Jonas Dreyfus

Emil liebt Hasen. Wenn es nicht regnet, setzt Hanny Seewer ihn in den Kinderwagen und stösst ihn durch die Schiebetür des Reha-Zentrums des Kinderspitals Zürich ins Freie. Einmal über den Parkplatz – und schon sind die beiden in einer anderen Welt. Eine Welt, die Emil von zu Hause kennt.

Neben einem Stall steht eine Kuh. Keine echte – aber immerhin. Hier, am Rand der Gemeinde Affoltern am Albis, hört er das zufriedene Schnauben von Pferden, die in Boxen auf ihre Reiter warten.

Hier riecht es nach Wiese, nach Erde, nach Wald. Hier wohnen die Hasen. Wenn sie durch ihr Käfig hoppeln und ihre Mitbewohner, die Meerschweinchen, in Panik auseinanderstieben, quietscht Emil vor Freude.

«Er ist ein kleiner Engel», sagt die 76-Jährige über ihren zweijährigen Schützling. Hanny Seewer ist eine von 130 Freiwilligen, die an den Standorten der Kinderspitäler Zürich und Luzern jeweils zwei Stunden die Eltern entlasten. Ähnliches bieten auch andere Schweizer Spitäler unter dem Begriff IDEM (Im Dienste eines Mitmenschen) an. 

Bis zu dreimal pro Woche besucht Frau Seewer Emil. Viele Angehörige können nicht rund um die Uhr vor Ort sein, müssen sich um den Rest der Familie kümmern, sind beruflich eingebunden oder wohnen weit weg.

Emil kommt aus einem kleinen Dorf im Engadin, seine Eltern sind Bauern, führen einen Familienbetrieb mit 40 Stück Vieh. Vergangenen Mai zog er sich bei einem Unfall mit einem Traktor ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu. Den Umständen entsprechend geht es ihm gut. Die Wochenenden verbringt er seit neustem wieder zu Hause. Der Kleine sei der Star der Klinik, sagt Seewer. «Es ist ein Wunder, wie fröhlich er ist.»

In den USA nennt man Menschen wie Seewer Baby-Buddys. In der Schweiz organisiert die Aladdin-Stiftung seit 2011 ihre Einsätze. Im Moment kann sie sich vor Anfragen von Freiwilligen nicht retten.

Dazu beigetragen hat ein viel gesehener Videofilm über einen Rentner, David Deutchman, der seit zwölf Jahren in einem Spital in Atlanta, Georgia, Frühchen im Arm hält. Er sitzt einfach nur da, streicht ihnen über den Kopf und singt ihnen – ganz leise – Lieder vor. «You Are My Sunshine» zum Beispiel.

Trotz Nähe: Abstand bewahren ist wichtig

Hanny Seewer war früher Kinderkrankenschwester. Doch es braucht keine spezifische Ausbildung, um ein Baby-Buddy zu sein. Die Aladdin-Stiftung prüft die Kandidaten bei einem Gespräch. Die Beziehung zwischen dem Freiwilligen, der Stiftung, den Eltern und der Spitalleitung basiert auf Vertrauen. Um die Angst vor Unfällen zu minimieren, bleibt das Pflegepersonal stets in der Nähe. Seewer erzählt stolz, wie ein Chefarzt einmal mit allen Ärzten durchs Haus zog, um sich bei jedem Freiwilligen persönlich für die Mithilfe zu bedanken.

Es sei wichtig, trotz der Nähe, die man gebe, einen gewissen Abstand zu bewahren, sagt Seewer. Sie besucht Emil seit neun Monaten, irgendwann darf er nach Hause. Dann ist er von einem Tag auf den anderen weg. «Das wird nicht einfach für mich, ich hab ihn ja u gerne.» Was aus ihm geworden ist, wird sie nie erfahren. «Dafür kommt dann ein neues Kind, dem ich Zeit schenke.»

Sie wirkt, als könne sie nichts umhauen. Seewer sagt Dinge wie: «Ich hatte in meinen Leben noch nie Grippe.» Ein Fels in der Brandung. Nur wenn sie Emil im Arm hält und gleichzeitig seine Hände abzuwehren versucht, die nach ihren silbernen Haaren greifen, kommt Seewer ins Schnaufen.

Sie hilft auch im Pfuusbus von Pfarrer Sieber 

Aufgewachsen ist sie im Zürcher Quartier Hirslanden, ihre Mutter war Hausfrau, der Vater Führer des Zahnradbähnchens, das zum Luxushotel Dolder fährt. Sie ist geschieden, hat zwei erwachsene Söhne. Mit 58 machte sie die Ausbildung zur Tram-Pilotin und arbeitete auf dem Beruf bis zur Pensionierung. Ihr Blick wirkt wach. Auch ein wenig traurig.

Seewer unterstützt Menschen, denen es schlecht geht. 2002 begann sie in der Obdachlosenunterkunft Pfuusbus zu helfen, die Pfarrer Sieber führte, und war bis zu seinem Tod im Mai seine Chauffeurin. Im Herbst spaziert sie schon mal durch die Stadt und verteilt -Socken an diejenigen, die im Winter im Bus oder dem angebauten Zelt Unterschlupf suchen. Bis zu 50 Randständige sind es pro Nacht.

Die meisten nennen Seewer «s Mami». Sie hilft beim Kochen und händigt Decken aus. Vor allem hat sie ein offenes Ohr. «Die Weihnachtszeit ist schwierig. Da kommen bei vielen Erinnerungen an die Kindheit und Jugend hoch.»

Dann hört sie Geschichten über Missbrauch, über Einsamkeit, übers Kapitulieren vor der Sucht. Seewer ist diejenige, die dazwischen steht, wenn jemand ein Messer zückt. Angst hat sie keine – und an die zahnlosen Küsse, die ihnen körperlich verwahrloste Männer auf die Backe drücken, hat sie sich gewöhnt. Nur die Tränen kann sie noch immer nicht zurückhalten. «Ich habe Menschen umarmt, die vor mir noch nie jemand in den Arm genommen hat. Die wollen nichts von mir ausser ein bisschen Nähe.»

In diesem Punkt unterscheiden sich die Existenzen, die an ihrem Leben scheiterten, nicht so stark von denen, die es noch vor sich haben. Auch Emil möchte manchmal einfach nur gehalten werden. Die Arbeit sei sehr entschleunigend, sagt Seewer. «Pressieren kannst du mit diesen Kindern nicht.» Wenn sie in Emils wache Augen blickt, vergisst sie all die schlimmen Geschichten. «Wenn ich nach Hause gehe, bin ich glücklich.» 

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