Catania, Mitte April 2019, morgens
Majestätisch erhebt sich «a Muntagna» (der Berg) vom schmalen Küstenstreifen im Norden der grössten italienischen Insel ab. Der von den Einheimischen ebenfalls gerne verwendete Name Mongibello deutet auf den Gipfel des Ätna hin, des höchsten Vulkans Europas. In der klassischen Mythologie und dem sizilianischen Volksglauben spielen die regelmässigen, oft sehr spektakulären und manchmal dramatischen Ausbrüche eine grosse Rolle. So soll Zeus das grässliche Ungeheuer Typhon – Vater der warmen und gefährlichen Winde – in einem Kampf besiegt und den Ätna auf ihn geworfen haben. Typhon soll seither darunter gefangen sein und den Vulkan in seiner grenzenlosen Wut immer wieder erbeben und Feuer, Gestein und Asche spucken lassen.
Heute thront der Berg friedlich über der Hafenstadt Catania, mit Schnee gepudert und seine charakteristische Rauchfahne schwingend. Ich werde mit einer halben Stunde Verspätung von einem wortkargen Fahrer vor meinem Hotel abgeholt. Nach überstandenem sizilianischem Verkehrschaos taut er auf der Autostrada langsam auf. Mit über 150 Sachen rasen wir der legendären Tenuta delle Terre Nere entgegen, dem Gut des charismatischen Winzers Marco de Grazia. Dieser machte in den frühen 2000er-Jahren zusammen mit Andrea Franchetti vom Weingut Passopisciaro die Ätna-Weine international bekannt. Er hatte massgeblichen Anteil an der Renaissance des sizilianischen Weins. War die Mittelmeerinsel früher vor allem für billigen Massenwein bekannt, wird das Eiland heute in Bezug auf die Produktion von Qualitätsweinen in einem Zug mit den legendären italienischen Weinbaugebieten der Toskana oder des Piemont genannt.
Randazzo, gegen Mittag
Nach zweistündiger Fahrt auf dem Weingut in Randazzo eingetroffen, fahren gleichzeitig vier Männer in einem Lancia vor. Unsere Gastgeber, wie ich vermute. Lächelnd begrüsse ich die älteren Herren in ihren ältlichen Anzügen. Sie mustern mich kritisch, besprechen etwas in sizilianischem Dialekt und schütteln widerwillig meine Hand. Für einen kurzen Moment fühle ich mich in einen Film von Francis Ford Coppola versetzt. Als die Fotografin unser Begrüssungsgeschenk – natürlich Schweizer Schokolade – überreichen will, kann ich sie gerade noch davon abhalten. Mittlerweile sind nämlich Marco Ciancio und Christian Liistro vom Weingut aufgetaucht und nehmen uns lachend in Empfang. Als Liistro die griesgrämigen Gestalten in die Kellerei führt, zwinkert mir Ciancio – verantwortlich für PR und Kommunikation – zu und erklärt, dass es sich bei den Männern um Mitarbeiter der staatlichen, landwirtschaftlichen Prüfungskommission handelt. Und obendrein erfahre ich, dass ich mein erstes Ziel, den sagenumwobenen Marco de Grazia zu treffen, verfehle. Er habe aus familiären Gründen Hals über Kopf nach Palermo aufbrechen müssen, wird mir mitgeteilt.
Nach diesen Unstimmigkeiten betreten wir eine kleine Parzelle, die sich in der Weinwelt einen legendären Status erworben hat. Dieser Schatz ist der zweite Grund meines Besuchs. Hier stehen 140-jährige Rebstöcke! Aus ihnen wird ein auserlesener Tropfen gekeltert, der Prephylloxera Etna Rosso D.O.C – La Vigna di Don Peppino.
Diesen Ort hat einer der schlimmsten Schädlinge des Weinbaus nicht erreicht. Dieser Flecken Erde wurde von der grössten Katastrophe verschont, die die Weinwirtschaft je erleiden musste, der Reblauskrise. Eine einzigartige Kombination aus Asche, vulkanischem Gestein und Silikonkomponenten hielt den Schädling offenbar davon ab, diese Rebstöcke zu zerstören.
Aber wie schmeckt ein Wein solch alter Reben? Mit Ehrfurcht probiere ich diesen Wein und bekomme Gänsehaut. Hochkomplex zeigt sich das edle Gewächs bereits in der Nase. Wildblumen, rote Beeren und Granatapfel verschmelzen mit Thymian, Gewürznelke und weissem Pfeffer. Am Gaumen unglaublich frisch, mit viel Finesse, einer burgundischen Eleganz und einem unendlich langen Finale. Und es schwingt etwas Unvergleichliches mit, eine ehrfürchtige Würde und die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit.
Der dritte Grund meines Besuchs heisst Calderara Sottana, ein weiterer Grand Cru des Weinguts. Als ich die knapp 650 Meter über Meer gelegenen Rebberge betrete, wird schnell klar, warum die Weine einen so einzigartigen Charakter aufweisen. Es weht ein kühler Wind vom schneebedeckten Vulkan, die Böden sind karg und steinig. «Ältere Vulkane sind erloschen, neue wurden geboren. So hatte der Ätna nach seiner Geburt über Jahrtausende das ganze Gebiet mit Lava überzogen und den vorhergehenden Vulkan Ellittico quasi unter sich begraben», erklärt er Christian Liistro, zuständig fürs Marketing. Wir stehen an einer ganz seltenen Lage, deren Böden noch auf Ellitico-Gestein fundieren. «Deshalb wird der Calderara Sottana auch aus dieser Einzellage produziert. Aus 50- bis 100-jährigen Rebstöcken», meint der gebürtige Sizilianer stolz und drückt mir einen Stein in die Hand. Geheimnisvoll fügt er an: «Leicht ist er, aber viel heller als das jüngere Lavagestein. Kein Wunder, war doch der Ellittico vor 30'000 Jahren aktiv.» Nach dieser spannenden und komplexen Geologie-Lektion, will ich wissen, wie dieser legendäre Wein schmeckt.
Ich werde nicht enttäuscht. Schon in der Nase zeigt sich der Calderara Sottana 2016 betörend. Gleichzeitig blumig und würzig, mit wunderbar präsenten reifen Fruchtnoten roter und dunkler Beeren, frischem Leder und Feuerstein. Im Abgang konzentrieren sich all diese Geschmacksexplosionen mit einer pfeffrigen Schärfe und hallen lange nach. Dieser Wein ist nicht einfach zu verstehen. Er braucht Zeit, um sich zu öffnen. Ist dann aber unglaublich vielschichtig und komplex. Trotz seiner Kraft zeigt er eine zeitlose Eleganz.
Autostrada dell Etna, nachmittags
Berauscht von der Schönheit dieser Landschaft, der legendären Gastfreundschaft der Sizilianer, den betörenden Düften der frühlingshaften Vegetation und der aphrodisierenden Wirkung dieser Tropfen, fahre ich zum Flughafen. Mit der Gewissheit, den Schöpfer dieser Weine in einem Monat in Zürich persönlich zu treffen. Es scheint, als winke mir selbst der Vulkan zum Abschied versöhnlich zu – mit seiner charakteristischen Rauchfahne. Ciao Mongibello!
Ende des 19. Jahrhunderts vernichtete die Reblaus sämtliche Weinberge in ganz Europa. Aus Amerika eingeschleppt, verursachte die Laus irreparable Schäden an den Wurzeln der Rebstöcke und vernichtete allein in Frankreich über 2,5 Millionen Hektar Rebfläche.
Ein Mittel wurde erst gefunden, als amerikanische Winzer reblausresistente Rebstöcke nach Frankreich lieferten, die als Unterlagsreben für die französischen Edelsorten verwendet werden konnten. Deshalb spricht man von veredelten Rebstöcken. Die Edelreiser werden ganz einfach auf die Unterlagsrebe gepfropft und sind deshalb nicht von der Wurzelreblaus befallen.
«Wurzelechte» Reben sind in Europa praktisch nicht mehr zu finden. In grossen Teilen Chiles und Argentinien jedoch ist die Reblaus bis heute kein grosses Problem. Rigorose Quarantänebestimmungen, Überflutungstechnik bei der Bewässerung und sandige Böden verhindern bisher deren Ausbreitung.
Ende des 19. Jahrhunderts vernichtete die Reblaus sämtliche Weinberge in ganz Europa. Aus Amerika eingeschleppt, verursachte die Laus irreparable Schäden an den Wurzeln der Rebstöcke und vernichtete allein in Frankreich über 2,5 Millionen Hektar Rebfläche.
Ein Mittel wurde erst gefunden, als amerikanische Winzer reblausresistente Rebstöcke nach Frankreich lieferten, die als Unterlagsreben für die französischen Edelsorten verwendet werden konnten. Deshalb spricht man von veredelten Rebstöcken. Die Edelreiser werden ganz einfach auf die Unterlagsrebe gepfropft und sind deshalb nicht von der Wurzelreblaus befallen.
«Wurzelechte» Reben sind in Europa praktisch nicht mehr zu finden. In grossen Teilen Chiles und Argentinien jedoch ist die Reblaus bis heute kein grosses Problem. Rigorose Quarantänebestimmungen, Überflutungstechnik bei der Bewässerung und sandige Böden verhindern bisher deren Ausbreitung.
Zürich, im Mai 2019
Marco de Grazia treffe ich beim Weinhändler Boucherville, der seine Weine in der Schweiz vertreibt. Die Ätna-Region sei eine «Insel innerhalb der Insel», meint de Grazia mit einem Funkeln in den Augen. «Hier regnet es fünfmal so oft wie sonst auf Sizilien. Verschiedene Höhenlagen, Terroirunterschiede von über 800'000 Jahren Lavaströmen und unzählige Mikroklimata machen diese Region einmalig», sprudelt es nur so aus ihm heraus.
Ätna-Weine seien knackig und kraftvoll, sexy und elegant, niemals aber opulent oder vulgär. Doch seien sie genauso launisch wie einige seiner Landsleute. «Als mich neulich ein guter Freund auf dem Landgut besuchte, öffneten wir ein paar Flaschen an einem drückend schwülen Abend. Es schien, als wollte sich der Wein nicht entfalten, er blieb verschlossen und praktisch untrinkbar, bis ein paar Stunden später die reinigende Kraft eines Gewitters über die Insel zog», erzählt uns der Winzer. Heute hätten wir einen guten Tag erwischt, seine Weine zeigten sich von ihrer besten Seite.
Es ist schwierig, de Grazia zu widersprechen. Wie auch? Der in den USA geborene Sohn eines Uni-Professors und einer Kunstmalerin ist einer der einflussreichsten Personen im italienischen Wein-Business. In Florenz aufgewachsen, studierte er Theater und Griechisch und arbeitete in einem Lederwarengeschäft. In den 1980er-Jahren gründete er seine Weinhandels und -beratungsfirma. Er verhalf den Barolo-Weinen des Piemont zu neuem Ruhm. Um die Jahrtausendwende kaufte er einen Weinberg am Fuss des Ätna und veränderte das Image des sizilianischen Weins weg vom billigen Massenprodukt hin zum gefragten Gewächs unter Weinfreaks.
Und de Grazia wäre nicht de Grazia, wenn er nicht weitere Pläne schmieden würde. Am liebsten will er das Handwerk des Metzgers lernen und dabei einen Kreis schliessen. Fleisch lässt sich nämlich nicht nur hervorragend mit Wein kombinieren, die Metzger sind auch Lieferanten der Rohmaterialien zur Produktion von – Leder.