Grün, weiss, rot. Der runde Teigfladen in Trikolore kommt direkt aus dem Ofen. Raffaele Tromiro (46) stellt den Teller auf den Tisch und setzt sich. Mit einer Schere schneidet er die Pizza, die man im ersten Moment und mit Gier als viel zu klein erachtet, in drei Stücke. «Probieren!», befiehlt er der Journalistin und dem Fotografen.
Raffaele Tromiro ist Pizzaiolo. Man sagt, er mache die beste Pizza. Das belegen auch zahlreiche Auszeichnungen wie «Pizzaweltmeister». Die aktuellste Krönung: Der Gambero Rosso, Italiens Genussbibel, kürte seine Pizzeria zur besten ausserhalb Italiens. Wer das immer noch nicht verdauen kann: Die beste Pizza ausserhalb Italiens gibt es hier in der Schweiz.
Diese Pizza hat Regeln
Der Rand aufgeplustert, fluffig, an manchen Stellen ziemlich dunkel. Die Mitte dünn und weich. Übelgesinnte würden sagen: labbrig. Aber: Das gehört sich bei einer neapolitanischen Pizza genau so. Sie zu essen, ist daher nicht ganz einfach. Tromiro machts vor: Er faltet das Stück, und zwar von Rand zu Rand, und beisst vorne in die Spitze hinein. Mit zwei, drei Bissen ist das Ding vertilgt. Die Finger bleiben wahrlich nicht sauber.
Tromiro kann das mit dem dicken Rand und der dünnen Mitte spezifischer ausdrücken. Es gibt nämlich Regeln, die eingehalten werden müssen, wenn man diese Art von Pizza bäckt. Sie darf maximal einen Durchmesser von 32 cm haben (man findet die Pizzen auf den ersten Blick wirklich immer zu klein!), der Rand muss zwischen 1 und 3 cm hoch sein, der Boden minimale 3 mm. Die Farbe des Randes, in Italien sagt man dazu «cornicione», muss an einen Leoparden erinnern (ja, die schwarzen Stellen sind gewollt!). Es gehört Fior di Latte (Mozzarella aus Kuhmilch) darauf, San-Marzano-Tomaten und Basilikum. «Auf die meisten Pizzen wird Oregano gestreut. Hier kommt Basilikum drauf. Drei Blättchen.» Weshalb drei? «Fortuna», sagt Tromiro, «für das Glück.»
Er kommt aus der Pizza-Weltstadt
Und Olivenöl in den Teig? Tromiro fasst sich ans Herz. Er simuliert Schmerzen in der Brust. Fett hat im Teig der neapolitanischen Pizza nichts verloren. Aber kaum aus dem Ofen kommt etwas Olivenöl auf die Mitte und den Rand. Für den Glanz beim Leoparden.
Pizza backen ist für den 46-Jährigen kein Job, sondern sein Leben. Er habe zwar Chemie studiert, aber sein ganzes Leben lang Pizza gebacken. Schon Tromiros Urgrossvater war Pizzabäcker in Italien. Die Heimat der Familie: Neapel. Die Pizza-Weltstadt. «Wir wuchsen in einem ziemlich kriminellen Teil der Stadt auf, mein Vater gab mir und meinem Bruder ständig Arbeit im Restaurant, damit wir nicht auf dumme Ideen kamen.» So fing er an, Pizza zu backen. Pizza, das machten damals nur Männer.
Das Herz gehört dazu
Tromiro isst jeden Tag Pizza, deshalb ist ihm wichtig, dass seine Kreationen bekömmlich sind. Er sagt: «Meine Pizza ist gesund.» Er entwickelte mit einer Mühle im Thurgau sein eigenes Mehl. Neben einem gut verträglichen Mehl verwendet er Fior di Latte aus Dietikon ZH. Die Tomaten sind aus der Region Kampanien, wo auch Neapel liegt. «Es sind die einzigen Dosentomaten, die ich so löffle», sagt Tromiro und bringt einen Teller mit Tomatensugo und drei Löffeln. «Probieren!»
Es gebe zwei Arten von Pizzabäckern, sagt Tromiro. Die, die Geld verdienen wollen, die fadesten Tomaten und den billigsten Schinken draufknallen, und die, die mit Herz arbeiten – und mit guten Zutaten. Zu welchen er sich selber zählt, ist keine Frage. Wie gut eine Pizza ist, so der Profi, merkt man bei der Margherita. Man schmeckt den Teig, die Tomaten, den Mozzarella. Erkennt, wie frisch die Zutaten sind und welche Qualität sie haben. Da können Pilze und Salami nichts kaschieren. Von Shrimps und Ananas fangen wir gar nicht erst an.
«Ich bin süchtig danach»
2015 kommt Tromiro als Pizzaiolo in ein Restaurant in Meilen ZH. Ein halbes Jahr später übernimmt er das Restaurant und eröffnet das Napulé. Mit viel Glück und einem guten Mentor. Mit einem eigenen Restaurant, so sein Gedanke, kann er seine Kinder in die Schweiz nachholen. Sie blieben in Neapel, die Distanz war furchtbar. «Ich habe sie alleine grossgezogen, war Vater und Mutter für sie. Ich war so froh, als sie auch in die Schweiz kamen.» Heute macht seine Tochter (20) eine Ausbildung zur Kleinkinderzieherin, und sein Sohn (18) arbeitet bei ihm im Betrieb. Dieser umfasst über 80 Mitarbeiter, vier Pizzerien und zwei Take-aways. Ab April eröffnet er im Restaurant Monardo in Hasenberg AG eine Theke mit Pizzen und ergänzt so das Angebot.
Was soll denn da noch kommen, Herr Tromiro? «Ich möchte noch mehr Restaurants. Ich möchte, dass die Schweizer bei Pizza an Napulé denken», sagt er und lacht. Napulé heisst übrigens Neapel in seinem Dialekt. Geht ihm Pizza nie auf die Nerven? «Nie. Ich bin süchtig danach.» Er macht auch daheim Pizza, wenn Freunde seiner Kinder kommen. Und in den Ferien in Neapel, wenn die Familie im grossen Garten zusammensitzt.
Der Trend der neapolitanischen Pizza
Wer derzeit Pizza essen möchte, hat das Gefühl, es gebe nur noch Pizza aus Napoli. Woher kommt dieser Trend? Traditionen werden wieder wichtiger, sagt Tromiro. Der Pizzaiolo habe heute einen anderen Status als früher. «Heute ist der Pizzabäcker wie ein Sternekoch.» In diesen Tagen vor sechs Jahren wurde die neapolitanische Pizza von der Unesco sogar in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Doch schon zwei Jahre vor der historischen Anerkennung servierte Tromiro neapolitanische Pizza in der Schweiz. Im Jahr 2015 sei er der Erste gewesen. «Viele dachten, ich sei verrückt. Diese Pizza möge hier niemand. Und jetzt? Jetzt gibt es sie in der ganzen Schweiz.»
Und sie hat eine grosse Anhängerschaft. Es gibt aber auch die anderen, die eine «normale» Pizza, eine knusprige, mit weniger opulentem Rand – «scusi, cornicione» – bevorzugen. Aber der Kranz macht die Pizza aus Napoli aus. Und sind Leute, die den Rand der Pizza übrig lassen, nicht sowieso seltsamer Natur, Herr Tromiro?
Der Pizzabäcker fasst sich einmal mehr ans Herz und sagt: «Wenn Leute den Rand übrig lassen, muss ich eine Schmerztablette nehmen.» Dann lacht der Neapolitaner und wischt sich eine imaginäre Träne aus dem Gesicht.