Dass wir sie im Gewimmel an der Talstation in Zermatt VS fotografieren, ist ihr peinlich. Wie jeden Morgen ist Vrony Cotting-Julen, die beim Vornamen genannt werden will, hier nur eine unter vielen.
Um 8.10 Uhr geht die erste Bahn mit den rund 200 Personen auf den Berg, die im drittgrössten Wintersportgebiet der Schweiz arbeiten.
Sie trägt einen makellos weissen Skidress und auf dem Kopf eine mit Pailletten bestickte Mütze. Während die Standseilbahn so schnell durch den Tunnel nach oben fährt, dass es in den Ohren knackt, erzählt Vrony, wie sie denselben Weg als Kind zu Fuss hinter sich bringen musste.
Eine Stunde wanderte sie nach der Schule bergauf zum Weiler Findeln. Von dort stammt ihre Familie, die Julens, eine der bekanntesten in Zermatt. Dort wohnte Vrony in den Sommermonaten mit ihren Eltern und drei Geschwistern auf 2100 Metern über Meer.
Später, als ihre Eltern mit den Kindern ins Tal zogen, musste sie den Weg auf sich nehmen, um ihre Grosseltern zu besuchen und ihre Fleischsuppe zu essen, in der die Knochen schwammen. «Ui, das hatte ich überhaupt nicht gern! Aber etwas anderes gab es nicht. Es war ein Leben, das sich jüngere Generationen nicht mehr vorstellen können.»
Im selben Bergbauernhaus, in dem ihre Grossmutter in drei kleinen Zimmern zwölf Kinder grosszog – Vrony: «Ohne Windeln!» –, führt die Wirtin heute ein Pistenrestaurant mit 14 Gault-Millau-Punkten.
Das Chez Vrony steht sinnbildlich für die Schweizer Version des American Dream. Vergleichbar mit St. Moritz GR und Gstaad BE, entwickelte sich die Berggemeinde dank der hohen Arbeitsmoral der Dörfler und dem Aufkommen des Wintertourismus innerhalb weniger Jahrzehnte vom Ort des Überlebens zur Luxusdestination.
Anfang der 20er-Jahre begannen Vronys Vorfahren am Ort, wo sich heute ihr Restaurant befindet, Suppe, Milch und Tee an Wanderer zu verkaufen, und erwirtschafteten Pro Tag zehn Franken. Mitte der 50er-Jahre verwandelte sich das Alpenheim, wie es damals noch hiess, allmählich in ein Restaurant. Das selbst gemachte Trockenfleisch von den hauseigenen Rindern schmeckte den gut betuchten Bergsteigern und Skifahrern, die plötzlich im Wallis auftauchten. Es steht noch heute auf der Karte.
Ihr Vater war Skilehrer des reichsten Mannes der Welt
Weil Gemeinde und Banken sich querstellten, finanzierte Vronys Vater August Julen mit seinen Brüdern aus eigener Kasse einen Sessellift, der das Restaurant ans Skigebiet anband. Das Geld hatten sie sich als Bergführer und Skilehrer von berühmten Persönlichkeiten wie J. Paul Getty, dem damals reichsten Mann der Welt, verdient. Am ersten Tag nahmen sie mit den zwei Franken, die eine Liftfahrt kostete, 800 Franken ein. So viel zahlte man damals für eine Kuh.
Als der Grossvater starb, wollte trotzdem keiner der Kinder das Restaurant übernehmen. Die Sache wurde ausgelost, das Alpenheim blieb an Vronys Vater August hängen.
Ein Jahr später grassierte der Typhus in Zermatt, alle Gastrobetriebe mussten schliessen. Vrony war drei Jahre alt.
Der getunte Davoser Schlitten fährt wie auf Schienen
Heute ist sie 58 und schwingt sich, an der Bergstation angekommen, auf einen getunten Davoser, mit dem sie seit bald vierzig Jahren zur Arbeit fährt. Unter den Holzschlitten liess sie zwei gekürzte Rossignol-Ski montieren.
Manuel Perreira aus Portugal, ein langjähriger Mitarbeiter ihres 30-köpfigen Teams, bringt mit dem Schneemobil einen vollgepackten Anhänger mit Frischware wie Milch und Gemüse hinunter ins Chez Vrony. Länger haltbare Ware transportiert ein Traktor im Herbst vom Tal hinauf. Darunter sechs Tonnen Kartoffeln für die währschafteren Gerichte wie die gratinierte Älpler Rösti oder die Short Ribs mit Kartoffelstock.
Diese sanft wirkende Frau – ihr walliserdeutscher Singsang erinnert an jemanden, der ein Kind tröstet – bolzt nun den Abhang hinunter. Die ersten Skifahrer auf der in Morgenrot getauchten Piste drehen sich nach ihr um. Im Hintergrund sieht das Matterhorn mit einer einzelnen, am Spitz haftenden Wolke aus, als rauche es eine Morgenzigarette.
«Über meinen Arbeitsweg kann ich mich nicht beklagen», sagt Vrony. Das aufblasbare Sitzkissen, das sie vor kurzem auf Drängen ihres Physiotherapeuten auf dem Schlitten befestigte, möchte sie lieber nicht allzu prominent auf dem Foto haben.
Das frühere Einkehren ist das heutige Chillen
Ein paar Stunden später: Der Mittagsservice ist in vollem Gange, das Chez Vrony brummt. Der gemütliche Essbereich ist in dem Stil eingerichtet, den heute jeder Fonduezelt-Veranstalter zu kopieren versucht.
Das Chez Vrony sah schon so aus, als es noch keine Heizpilze gab. Alpine Chic nennen das die Interieur-Designer. Auch Künstler Heinz Julen, der Bekannteste der vier Geschwister, hat hier seine Handschrift hinterlassen.
Auf den Bänken liegen Felle, vor den Fenstern hängen gehäkelte Vorhänge. Runde Steinplatten, die ursprünglich Mäuse abhalten sollten, trennen die vielen Holzsäulen.
Seit die Gastgeberin das Restaurant vor 20 Jahren ganz übernahm, hat sie es stetig modernisiert. Treibende Kraft sei ihr Ehemann gewesen, der zum Beispiel auf eine Kompletterneuerung der Küche pochte. «Ich finde oft: Es ist doch gut, wie es ist. Max lässt nicht locker. Wir haben heftige Diskussionen hinter uns deswegen.»
Max Cotting-Julen (62), der sich von Montag bis Donnerstag in Zürich um seine Vermögensverwaltungsfirma kümmert, war einst Gast im Restaurant.
Das sei schon etwas gewesen, als in den 80er-Jahren die Ski-Cracks hier haltmachten, sagt Vrony. Sie habe sich mit ihren Schwestern darum gestritten, wer sie bedienen durfte. Hier hat Schwester Monika Pirmin Zurbriggen kennengelernt,
mit dem sie fünf Kinder hat. Die Cotting-Julens haben zwei Söhne: Max (19) und Louis (17).
«Die Leute kehren heute nicht mehr ein, sie wollen chillen», sagt Vrony. Aus den Boxen auf der Sonnenterrasse pumpt tropisch angehauchte House-Musik, während das junge, ausschliesslich weibliche Servicepersonal saftige Burger, kunstvoll angerichtete Salate und üppige Cappuccinos zu den Tischen trägt.
Vor Vrony war hier Selbstbedienung, zum Essen gabs Käseschnitte und Rösti-Schüblig, neben Sinalco und Rivella in Literflaschen konnten sich die Gäste je eine Sorte Fendant und Dôle mit Schraubverschluss vom Buffet aufs Tablett
stellen. Heute stehen Flammenkuchen mit Trüffel und Jahrgangs-Champagner in Magnumflaschen auf der Karte.
Dass man ihre Kundschaft als Jetset bezeichnet, ist Vrony dann auch wieder unangenehm. Ja, Manuel Neuer, Claudia Schiffer und Paul McCartney seien auch schon zu Gast gewesen. «Aber müssen Sie das unbedingt schreiben?»
Zum Coiffeur gehts nach Zürich – so viel Luxus muss sein
Die Gäste, die hier mit ihren Hightech-Ausrüstungen einmarschieren, sind sportlich, auch wenn sie je nach Menü und Weinauswahl etwas länger «chillen» müssen, bevor sie es wieder auf die Bretter schaffen. Eine angegraute Männergruppe, die in breitem Baseldeutsch Sprüche klopft, bestellt nach dem Dessert noch Zigarren.
Ohne Ski oder Snowboard ist die Hütte schwer erreichbar. Das macht das Betreuen der Online-Reservierungen extrem aufwändig. Eine Mitarbeiterin ist nur dafür angestellt, den Menschen aus allen Herren Ländern – von Singapur bis Mexiko – zu erklären, um welche Art von Restaurant es sich hier handelt.
Was bedeutet ihr selbst denn Luxus? «Nichts», sagt Vrony. Zum Coiffeur fahre sie nach Zürich, fügt sie an – und in den Ferien gehe es weit weg an schöne Strände. «Ab und zu brauche ich einen Szenenwechsel. Ich bin ja immer hier oben.»