BLICK besucht drei der letzten Stammtische der Schweiz
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Rar werdendes Kulturgut:BLICK besucht drei der letzten Stammtische der Schweiz

Adieu, Schweizer Kulturgut!
So schlimm stehts um unsere Stammtische

Wir haben uns an drei der letzten Stammtische im Land gesetzt. Ein Nachruf auf eine nationale Institution mit einem miesen Image – die wir schwer vermissen werden.
Publiziert: 08.06.2019 um 15:08 Uhr
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Aktualisiert: 11.06.2019 um 16:43 Uhr
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Die Stammtische verschwinden aus den Restaurants. Wir haben uns an drei der letzten Verbliebenen im Land gesetzt.
Foto: Stefan Bohrer
Rebecca Wyss

In der «Brücke» in Hagneck BE gehts jeden Morgen schon um acht los. «Die Alteisen­versammlung tagt», spöttelt Hausi. Früher war er Garagist, heute ist er pensioniert und gibt hier den Ton an. Am morgen früh liest er zu Hause den BLICK. Dann gehts ab in die «Brücke», um beim Kafi den anderen zu berichten, was «die Sommaruga» oder «die UBS-Banditen» wieder angestellt haben. Manchmal kommt er am frühen Abend noch mal. So wie jetzt. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Ballönli vom «Bundesratswein» - ein Einerli Weisser von Guy Parmelin.

Hans, ebenfalls pensioniert: «Er tut wüescht, und wir müssen zuhören.»
Hausi: «Ich sage, was ich denke.»
Hans: «Schlagzeilenhausi.»

Lachen.

Heinz: «Er kann aber auch gut einstecken.»
Hausi: «Das muss man, wenn man hier sitzt.»
Hans: «Achtung, der Gemüse-Beck kommt.»

Der Name ist ­Programm. Seine Frau verkauft Gemüse, er macht die Mandel- und Nussgipfel, die unter der ­Plastikglocke auf dem Buffet ­stehen. Und er hat gerade etwas vernommen.

Gemüse-Beck: «Im Radio haben sie gesagt, dass Volvo jetzt sechs Mo­nate Vaterschaftsurlaub geben will.»
Heinz: «Sag doch gleich ein ­halbes Jahr, das versteht man besser.»
Hausi: «Ich hatte keinen einzigen Tag frei. Das Kind schläft sowieso 18 Stunden am Tag. Da muss ich nicht dabei sein.»

Manchmal sitzen ein Dutzend Stammgäste gleichzeitig im Gasthof Brücke. Viele kommen aus den umliegenden Dörfern des Bieler Seelands. Weil sie sonst nirgends mehr hin können. Weil alle Stammtische verschwunden sind.

Die Stammtischkultur geht vor die Hunde. Klammheimlich, im Windschatten der sterbenden Land­beizen. In den letzten Jahren raffte es bis zu acht Prozent von ihnen ­dahin - je nach Region. Doch das ist nur ein Nebenschauplatz. Der Hauptgrund liegt woanders: Der Stammtisch hat ausgedient. Der Politologe Lukas Golder vom Forschungsinstitut GFS Bern sieht es so: «Er hat sich ins Netz ­ver­lagert.»

Früher wurde am Stammtisch die eigentliche Politik gemacht. Eine Politik der mächtigen Männer - in der die Meinungsmacher den anderen ihre Meinung machten. Das funktioniert heute nicht mehr. «Die Netzgesellschaft lebt davon, dass alle mitreden können», sagt Golder. Und die heutigen Meinungsmacher heissen Influencer.

Nicht gerade förderlich ist da das schlechte Image: der Stammtisch als eine Ansammlung von Männern, die gegen «die da oben», Schwule und «die Asylanten» ­hetzen und sich mit Stangen ­abschiessen.

Dabei ist der Stammtisch weit mehr als das. An ihm wurde Schweizer Geschichte geschrieben. Im Jahr 1840 hoben 300 Männer im «Rössli» Ruswil LU die Katholisch-Konservativen aus der Taufe - die Vorgängerpartei der CVP. Wer ein katholisch-konservativer Mann war und trinken konnte, hatte im «Rössli» seinen Platz am Stammtisch.

Frauen und Kinder hatten ihren draussen auf dem Fuhrwerk, später im Auto. ­So verbrachten sie ihren Sonntag nach der Kirche. Bis irgendwann ein Kind in die Gaststube rannte, um dem ­Vater zu sagen, dass sie schon mal zu Fuss nach Hause gehen. Das hat Robert Erni noch miterlebt. Er wirtete bis 2012 im «Rössli», 33 Jahre lang, in vierter Generation.

Später war der Stammtisch im «Rössli» auch ein Auffangbecken. Für allein­stehende Lehrer oder Handwerker, die bei einer Schlummermutter eine Kammer gemietet hatten. Die Gaststube war ihr Wohnzimmer. Und für Verheiratete, die keine Lust auf den Trouble zu Hause hatten. «Früher lebte man als Mann mit der Frau, den Kindern und den Eltern in einer Vier-Zimmer-Wohnung ­zusammen», sagt Erni.

Damals bedrohten noch keine 24-Stunden-Shops, keine ­Migros und Coop die Dorfläden. Der Bäcker musste noch keine ­Feierabendbrote backen, weil die Kunden das so erwarteten. Die Handwerker konnten den Hammer um vier Uhr nachmittags fallen lassen. Und die Büezer erschienen nach einer durch­zechten Nacht anderntags angesäuselt auf der Baustelle. Suva war ein Fremdwort. Heute ist nach drei Stangen Schluss, wenn man noch fahren will. Unfälle passieren trotzdem.

Am schlimmsten hat es den ­Hagelhans in der «Brücke» in Hagneck BE erwischt. Der Über­name ist vom Grossbauern aus «Ueli der Pächter» entlehnt.

Fränk, Velomech: «Der ist besoffen auf den Ranzen geflogen. Und jetzt ­haben sie ihm das ­Velobillett ­weggenommen.»
Hagelhans: «Für einen ganzen ­Monat. Weil so ein Totsch der ­Ambulanz telifoniert hat.»
Hausi: «Velo-Billett-Entzug. Gibts das überhaupt, oder ist das nur ein Stammtischmärli?»

Auch Hausi hats vor kurzem böse mit dem Velo verschnetzlet, weil er zu viel intus hatte. Auf dem Restaurant­parkplatz.

Hausi: «Ich hab mich hier drei Tage lang nicht mehr ­blicken ­lassen. Meine Frau hat mich nicht aus dem Haus ­gelassen.»

Lachen.

Fränk: «Ein Wunder, dass er noch zu den Augen rausgesehen hat. Er sah schlimm aus.»
Hausi: «Noch ein Ballönli, bitte!»

Früher durfte man seinen Stumpen in der Beiz rauchen. In Arboldswil BL bei Jean Rudin - den man nur als «Schangi» kennt - zieht ­mindestens ein Stammgast noch an der Original-Krummen von ­Villiger. Aber nur draussen. Trotz Rauchverbot ist «Schangis» Stammtisch voll. Aber nur der, sonst ist die Gaststube meistens leer.

Der 70-jährige Wirt hatte vor vier Jahren einen «Schlegi». Jetzt hat er nur noch an vier Abenden offen. Seine grösste Sorge: ob er genug kaltes Ziegelhof-Bier hat. Die ­ kleine Kühltruhe in der Küche fasst knapp zwei Harassen. Meis­tens reicht das. Und wenn nicht, kommt keiner auf die Idee, ihm dumm zu kommen.

Peter, Angestellter in einem ­Temporärbüro: «Nur wegen uns hat er überhaupt noch offen.»

Seine Erklärung fürs Stammtischsterben: «Heute sind Kultbeizen in. Und die brauchen Kultgäste. Genau so ist es mit dem Stammtisch. Doch dessen Kultgäste sind langsam im Altersheim.»

Beni, SVP-Gemeinderat: «Und die Neuzuzüger kommen nicht. Die wollen hier bei uns auf dem Land ihre Ruhe haben, wenn sie am Abend von ausserhalb heim­kommen.»
René, Handwerker: «Wegen ­denen haben wir auf der Weide keine Kuhglocken mehr.»
Urs, Feinmechaniker: «Steht sogar in der Gemeindeverordnung.»
René: «Weisst du, in welcher Partei der ist?»
Beni: «Wer?»
René: «Der, ders durchgestiert hat. In der SVP.»

Ob auf dem Land oder in der Stadt - heute essen wir gesund, trinken ­weniger Alkohol, gehen joggen. ­Junge Väter wollen ihre Kinder aufwachsen sehen, miterziehen. Die Frauen wollen mitdiskutieren, mitgestalten. Und alle haben immer ­weniger Lust, sich auf einen Ort festzulegen. Wir wollen hier ­wohnen, dort arbeiten. Wir sind mobil, zeitlich flexibel, schnell. ­Gehen wir in ein Restaurant, ­wollen wir uns entspannen, gut ­essen, unter vier ­Augen reden.

Die Wirte passen sich dem Bedürfnis an. ­Verkürzen die Öffnungszeiten, spezialisieren sich auf Abendessen. Stammgäste, die die Plätze be­setzen, aber nur ein paar Biere ­trinken, sind immer ­weniger gerne gesehen. Und das hat Folgen. Nicht nur fürs Geschäft. Sondern, schlimmer: für unsere ­Demokratie.

Übers Internet kann man das Volk nur mobilisieren, wenn es um internationale oder nationale Themen geht. Das zeigen die MeToo-Bewegung, die Klima­jugend oder die Operation Libero. Auf lokaler Ebene hängen immer mehr Bürger ab. Dort gehen sie ­immer weniger an die Urne. «Das ist ein grosses Problem», sagt ­Politologe Lukas Golder.

Vor allem in den Agglomerationen, wo die Wahlbeteiligung bei kantonalen Wahlen zum Teil bei zehn Prozent liegt. Weil viele nicht mehr wissen, was in ihrer Region politisch vor sich geht. Weil es immer weniger lokale Medien gibt, die darüber ­berichten. Und eben: «Weil der Stammtisch fehlt», so Golder.

Einer der Letzten, der diese Lücke füllt, steht in Altdorf UR. Im ­Restaurant Tellenbräu, gleich ­neben dem ­Tellendenkmal. Dort ist es ganz normal, dass Alte und Junge, Linke und Rechte, Arbeits­lose und Rentner sowie Frauen über Lokal­politik debat­tieren. Und dass es dem einen oder an­deren mal den Hut lupft und er rausgeht, um eine Zigi zu rauchen. ­Zuletzt heiss diskutiert: die Ab­stimmung über den Kunstrasen für den FC. Für 2,7 Millionen.

Michi von der Kripo: «Das haben wir ­wochenlang besprochen.»
Heinz: «Ist halt teuer. Nehmen wir ­einen Schnupf?»
Richi, ehemaliger Versicherungsfachmann im Ruhestand: «Immer schön den kleinen Finger rausstrecken.»

Sagts, und streckt ­seine Hand aus.

Ruedi, ehemaliger Journalist: «Richi, du musst mit der linken Hand. Das Problem mit dem Rasen ist der Kunststoff. Das ist umwelttechnisch schlecht.»
Richi: «Stimmt nicht, mein Vater hat auch immer die rechte Hand genommen.»
Michi: «Wegen Mikroplastik.»
Mäck: «Am Ende wurde es an der Urne ja abgelehnt. Mit 58 zu 42.»
Ruedi: «Mäck, du bist parteiisch. Er ist der Gemeindekassier. Der Gemeinderat war ja dagegen.»

Später gibts noch mal einen Schnupf. Dann ist man bereits beim nächsten Thema: der Finanzierung der Pflege von ­Angehörigen.

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