Frau Leister, woher kommt Ihre Faszination für die Arktis?
Christiane Leister: Mein Vater war Kapitän und auch meine Grossväter waren Seefahrer. Trotzdem waren wir während meiner Kindheit nicht viel auf Reisen. Vor 25 Jahren bin ich mit einem russischen Eisbrecher zur Arktis gereist. Dort habe ich auch zum ersten Mal Eisbären gesehen. Dann habe ich mich viele Jahre nicht mit der Arktis beschäftigt. Der Wintersport zog mich zurück nach Grönland. Ich bin Snowboarderin und fahre gerne Off-Piste.
Im Juli haben Sie per Zufall die nördlichste Insel der Welt entdeckt. Wie war das?
Wir alle sechs dachten, dass wir auf Oodaaq Island gelandet waren. Die Insel, die seit 1980 niemand mehr gesehen hatte. Nach dem Aussteigen dokumentierten wir die Koordinaten und nahmen Bodenproben. Dann bauten wir ein kleines Steinmännchen und hinterliessen ein Aluminiumkistchen mit unseren Namen, einer Schweizer und einer dänischen Flagge. Erst als ein dänischer Wissenschaftler nach der Expedition die GPS-Daten auswertete, stellte sich heraus: Wir haben eine neue Insel entdeckt. Emotional und überraschend war auch der Moment, als wir unsere Füsse ins Wasser gehalten haben. In den meisten Gewässern gibt es Kies, Muscheln, Sand oder Schlamm. Dort standen wir nach einigen Schritten im Wasser auf purem Eis. Das war ein ganz neues Gefühl.
Wie kam es überhaupt zu dieser Reise?
Nordgrönland ist teilweise unerforscht. Mein Ziel war es, eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammenzustellen, um Erkenntnisse über die Arktis zu gewinnen. Wir hatten Biologen, Geologen und Klimaforscher dabei. Für sie war das Probensammeln an schwer zugänglichen Orten das Wichtigste.
Wie haben Sie sich vorbereitet?
Die Expedition brauchte zwei Jahre Vorbereitungszeit für Logistik, Routenplanung und Sicherheitstraining. Ost- und Nordgrönland sind Gebiete der Eisbären. Man muss wissen, wie man sich zu verhalten hat.
Und, haben Sie einen getroffen?
Ich persönlich nicht. Aber auf Ella Island, im Osten Grönlands, haben andere Expeditionsteilnehmer einen Eisbären gesichtet. Er war jedoch in sicherer Entfernung und konnte vertrieben werden.
Lief die Reise denn sonst nach Plan?
(Lacht) Nein, das tut es bei solchen Expeditionen nicht immer. Wir hatten geplant, die Expedition mit einem Helikopter und einem kleinen Flugzeug zu machen. Einen Tag vor dem Start erfuhren wir, dass das Flugzeug nicht funktionsfähig war und es keinen Ersatz gab. Abbrechen kam jedoch nicht in Frage. Mit viel Aufwand planten wir die Route um.
Sie waren zwölf Tage unterwegs. Was haben Sie gegessen?
Expeditionskost, die in Päckchen mit heissem Wasser aufgewärmt wird. Da gibt es so eine italienische Marke, die ist ganz lecker. Wir haben auch gekocht. Dafür hatten wir frische Lebensmittel eingeflogen und geangelt. Mit viel Glück habe ich einen 5,2 Kilogramm schweren Saibling gefangen, obwohl ich vom Angeln eigentlich nichts verstehe. Es gab so viele Fische, dass wir die Bewohner unserer Stützpunkte damit versorgten – für einige von ihnen das erste frische Essen in dieser Saison.
Sie waren komplett von der Zivilisation abgeschnitten. In so einer Situation muss man sich aufeinander verlassen können. Fällt Ihnen das leicht?
Es ist wichtig, die Menschen vorher zu kennen, denn man befindet sich weit entfernt in schwer zugänglichen Gebieten. Es benötigt Vertrauen, das im Vorfeld aufgebaut werden muss. Ich habe, bis auf eine Ausnahme, alle Expeditionsteilnehmer vorher kennengelernt.
Haben Sie manchmal Angst?
Nein, nie. In kritischen Situationen muss man Ruhe bewahren und sich voll darauf konzentrieren, welchen Schritt man als Nächstes macht. Das Ziel im Blick behalten, sonst kommt man nicht vorwärts. Es ist wie Krisenmanagement in Firmen. Ich schaue immer nach vorne. Die Vergangenheit interessiert mich nur, wenn ich daraus lernen kann.
Gab es auf der Expedition mal eine brenzlige Situation?
Ja, ein Flug war angespannt. Es waren zwei Helikopter mit je nur dem Piloten und einer weiteren Person an Bord, die Rückbänke ausgebaut für zusätzliche Treibstofftanks. Das Wetter war sehr wechselhaft und die Sicht vorübergehend schlecht. Einmal diskutierte ich mit meinem Piloten, ob der graue Fleck weiter vorne eine dicke Wolke ist, durch die man nicht hindurchfliegen kann oder eine Insel. Das brauchte volle Konzentration.
Sehen Sie sich als Abenteurerin?
Nein. Mir geht es darum, Neues zu lernen und Erfahrungen zu machen. Es gibt schon ab und zu auch Momente des Abenteuers, weil man bei so einer Expedition nicht alles vorhersagen kann. Eine Abenteurerin sucht jedoch bewusst das Risiko – um den Drang zum Extremen zu stillen. Das ist etwas völlig anderes.
In Grönland und auf dem Himalaya Off-Piste snowboarden klingt schon sehr nach Abenteuer.
Da kommt es darauf an, wie gut man snowboardet. Auf einer Skipiste passieren auch Unfälle. Sicherlich gibt es Off-Piste-Risiken – und ich bin mir der Gefahren voll bewusst. Da ist Risikomanagement gefragt, und man muss bei schlechten Verhältnissen auch Nein sagen können.
Sie leiten einen Konzern, sind eine viel beschäftigte Frau – und doch widmen Sie Ihre Zeit Forschungsprojekten. Was treibt Sie an?
Ich finde die Wissenschaft faszinierend. Denn je mehr wir wissen, desto mehr neue Fragen entstehen. Der Horizont wird stetig erweitert. Grundlagenforschung ist wichtig, damit wir auch in Zukunft die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Form von Technologie der Wirtschaft zur Verfügung stellen können. Deswegen bin ich auch im ETH-Rat engagiert. Die Leister Gruppe arbeitet eng mit Hochschulen, Universitäten und Instituten zusammen. So können wir mit Innovationen Technologieführer bleiben.
An der Arktis schmelzen jährlich Millionen Tonnen Packeis aufgrund des Klimawandels. Sind Ihnen bei Ihrer Expedition denn Unterschiede im Eis aufgefallen?
Ja, man sieht es an vielen Orten mit blossem Auge. Ich war 2018 am Petermann-Gletscher. Diesen Juli bin ich wieder drübergeflogen. Es war zwar in der Jahreszeit etwas später, aber trotzdem: Die zusammengeschobenen Eismassen auf dem Gletscher waren viel kleiner. Und die Seitengletscher sind zu kleinen Gletscherzungen geschrumpft.
Sehen Sie sich als Unternehmerin da in der Verantwortung?
Ja. Unsere Betriebsgebäude werden alle mit erneuerbaren Energien betrieben, und unsere Geräte werden ständig optimiert, sodass mit weniger Watt mehr Leistung erbracht werden kann. Dabei müssen wir aber auch auf die Preisgestaltung achten, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.
Sie haben mal gesagt: «Ehrgeiz wurde bei uns zu Hause grossgeschrieben.» Wollen Sie die Beste sein?
Unser Leben ist im Kern kompetitiv. Ein gesunder Ehrgeiz ist nicht abträglich, um gut durchs Leben zu kommen. Ich persönlich versuche immer, mein Bestes zu geben, und in der Firma sind wir schon sehr sportlich unterwegs. Um Marktführer zu bleiben, muss man zu einem gewissen Grad leistungsorientiert sein.
Sie haben 1993 – nach dem Tod Ihres Mannes – eine kleine Firma übernommen. Heute ist die Leister AG ein Konzern, der modernste Technologien vertreibt. Hatten Sie diese Vision von Beginn an?
Ich schaue am liebsten nach vorne. Mit dieser Einstellung habe ich auch 1993 die Firma übernommen. Die Umsetzung unserer Strategien, Opportunitäten und unsere Mitarbeitenden bringen die Geschäfte ebenso voran. Es ist nicht immer komfortabel, man muss sich anstrengen und auch in Krisenzeiten mit Rückschlägen umgehen können.
Wurden Sie direkt als Chefin wahrgenommen oder mussten Sie sich Ihr Standing erkämpfen?
Alle waren gespannt, was mit dem Führungswechsel geschieht, das hatte aber wenig mit meinem Geschlecht zu tun. Ich musste meine Arbeit erfolgreich machen und zeigen, dass auch mit einer neuen Führung die Firma eine Zukunft hat.
In einem Beitrag des SRF von 2015 sieht man Sie mit Ihren Landeschefs. Am Tisch sitzen nur Männer. Fördern Sie Frauen bewusst?
Wenn man hochtechnisch unterwegs ist, ist es gar nicht so einfach, qualifizierte Frauen zu finden. Mit der Leister-Stiftung fördern wir Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Damit möchten wir das Interesse junger Menschen an den Mint-Berufen steigern – vor allem bei Mädchen. Wir beteiligen uns zum Beispiel bei Jugend forscht und haben in Obwalden ein Tüftellabor aufgebaut. Mir ist wichtig, dass alle die gleichen Chancen haben. Frauen muss Mut gemacht werden. Aber: Man muss sich das auch selbst erarbeiten. Gleiche Chancen bedeuten auch, dass man die gleiche Leistung bringen muss.
Sie bereisten bereits über 60 Länder, nun haben Sie sogar eine Insel entdeckt. Was kommt da noch?
Inzwischen sind es bald 70 Länder. Ich habe keine Wunschliste für neue Länder. Intensive Reisen können nicht eine nach der anderen konsumiert werden, man muss sich Zeit zur Verarbeitung der Erlebnisse nehmen. Es ist aber eine weitere Grönland-Expedition geplant.
Würden Sie sagen, dass die Inselentdeckung Ihr bisheriges Forscher-Highlight war?
Da ich keine Inseljägerin bin und gar nicht auf Entdeckung aus war, ist das eine schöne, willkommene und angenehme Überraschung. Die weltweite Resonanz hat uns sehr überrascht. Wir sind gerade an der wissenschaftlichen Nachbearbeitung und beantragen auch einen Namen: «Nördliche Insel», auf Grönländisch «Qeqertaq Avannarleq».