Dischy sticht seit 55 Jahren
Schweizer Stecher

Dischy (67) eröffnete 1974 als Erster in der Schweiz ein Tattoostudio und arbeitet nach wie vor als Tätowierer. Heute ist die Tätowierszene vielgestaltig und strahlt über die Landesgrenzen hinaus, wie das neue Buch «Swiss Tattoo» aufzeigt.
Publiziert: 08.10.2022 um 20:05 Uhr
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Aktualisiert: 24.11.2022 um 09:54 Uhr
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Dietmar «Dischy» Gehrer war der erste niedergelassene Tätowierer der Schweiz. Noch heute tätowiert der 67-Jährige in Rheineck SG.
Foto: Clément Grandjean
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Das Verruchte trat in unauffälligem Gewand in das Leben des zwölfjährigen Dietmar «Dischy» Gehrer. Der Bub, schon damals «nicht pflegeleicht», wie er über sich selbst sagt, blätterte in der Wochenzeitung einer Nachbarin und stiess auf einen Artikel über Tattoos im Knast. Er war fasziniert, erkannte die Provokation, die ein Tattoo in der damaligen Gesellschaft der späten 1960er-Jahre bedeutete – und probierte die beschriebene Technik gleich selbst aus.

Einen Stierschädel, inspiriert von Karl May, stach er mit Nähnadeln der Mutter und Tusche erst sich, dann einem gleichaltrigen Freund in die Haut. Wie tief er stechen musste, wusste er nicht. «Bis es wehtut, und dann noch ein bisschen weiter», erzählt er mit einem Schmunzeln. Nicht gerade erfreut seien die Eltern gewesen, die Aufregung habe sich aber mit der Zeit gelegt. Mit dem Schulkameraden steht er noch heute in Kontakt.

Tattoos provozieren kaum mehr

Um heute, 55 Jahre später, mit einem Tattoo zu provozieren, muss man es sich grossflächig ins Gesicht oder auf den Schädel stechen lassen. Rund 1000 Tattoostudios gibt es in der Schweiz, Motive und Techniken sind vielfältig. Einen Einblick in die Geschichte und Bedeutung der Tätowierkunst in der Schweiz bietet die bildstarke Neuerscheinung «Swiss Tattoo».

Journalist und Historiker Clément Grandjean (33) porträtiert darin mehrere bekannte Tätowierer und Tätowiererinnen, lässt ausländische Tattookünstler über die Tattooszene Schweiz sprechen, lenkt den Blick auf den internationalen Einfluss und die grosse Bedeutung der verstorbenen Tätowierlegende Felix Leu (1945–2002) und von dessen Sohn Filip Leu (55), der in Sainte-Croix im Waadtländer Jura Kundschaft, aber kaum Medienschaffende empfängt.

Schweizer Tattoo-Kunst im Buch

Journalist und Historiker Clément Grandjean setzt der Tätowierszene der Schweiz mit seinem Buch «Swiss Tattoo» (Helvetiq, 2022) ein Denkmal. Er bietet historische, künstlerische und soziale Perspektiven zum Thema, stellt international bedeutende Tattoo-Artists aus der Schweiz vor und geht der Frage nach, was das Schweizer Tattoo so besonders macht.

Journalist und Historiker Clément Grandjean setzt der Tätowierszene der Schweiz mit seinem Buch «Swiss Tattoo» (Helvetiq, 2022) ein Denkmal. Er bietet historische, künstlerische und soziale Perspektiven zum Thema, stellt international bedeutende Tattoo-Artists aus der Schweiz vor und geht der Frage nach, was das Schweizer Tattoo so besonders macht.

«Ich glaube, dass es eine Schweizer Tätowierkunst gibt. Sie passt in keine Schublade und entzieht sich dem Versuch, sie zu beschreiben, weil sie so viele Gesichter wie Künstlerinnen und Künstler hat», sagt Clément Grandjean. «Sie ziehen ihre Inspiration aus einer Kultur, die das Land widerspiegelt: aus dem Lokalen und dem Internationalen, dem Urbanen und dem Ländlichen, dem Alten und dem Neuen.» So gesehen fügen sich die tätowierten Alpabzüge und Fantasy-Drachen, die Edelweiss und Rosen, Berge und Beton zu einem Gesamtbild.

Dischy hatte als Erster ein Tattoostudio

Bis dahin war es aber ein weiter Weg, und Dischy war von Beginn weg dabei: Als Allererster in der Schweiz eröffnete er 1974 ein Tattoostudio. Gerade 19 Jahre alt war er, hatte seine Velomechaniker-Lehre abgebrochen, jobbte auf dem Bau, wohnte bei seiner Freundin in Rheineck SG, vier Kilometer Luftlinie vom Dorf seiner Kindheit im Vorarlberg entfernt. Während der Jugendjahre hatte er in Hinterzimmern von Beizen tätowiert, ohne adäquate Ausrüstung. Über Monate tüftelte er herum, um eine Tattoomaschine zu bauen.

Der erste funktionierende Apparat, schwer und laut, entstand in Dischys rudimentär eingerichteter Werkstatt aus einer umfunktionierten Elektro-Spritzpistole. Nun liessen sich Linien viel einfacher und schneller ziehen. Tätowierer gab es damals auch in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden nicht viele. Wissen und Motiv-Vorlagen hüteten sie wie ein Master-Passwort. In Frankfurt (D) traf Dischy schliesslich auf einen Tätowierer, der ihm eine Maschine und die ersten Farben verkaufte.

Einige der einflussreichen Tätowierer in der Schweiz arbeiten fern der urbanen Zentren. Filip Leu in Sainte-Croix, «Mick vo Züri» in Rehetobel im Appenzellerland – beide tätowieren grossflächig im japanischen Stil – oder David Mottier in Riaz FR mit seiner Vermengung von amerikanischem Traditional, dem klassischen Stil aus den USA, mit volkstümlichen Schweizer Motiven. Auch Dischy ist im pittoresken Städtlein Rheineck geblieben. «Wenn sie zu dir wollen, finden sie dich», sagt er. Zwar tritt er seit der Pensionierung etwas kürzer, tätowiert aber nach wie vor in seinem Studio, direkt neben dem Restaurant Sonne, das er mit seiner Frau geführt hat.

Aggressiv waren die Untätowierten

Die Klientel in seinem Studio hat sich über die Jahre gewandelt. Aussenseiter, solche wie er, seien in den Anfangsjahren zu ihm gekommen. Solche, die optisch ein bisschen provozieren wollten. «Die Aggressivität kam kurioserweise meist von anderen Menschen», berichtet Dischy auf dem Ledersofa in seinem hellen Studio. Heute kommt seine Kundschaft aus allen Gesellschaftsschichten. Für Dischy lief das Geschäft seit jeher gut; seine Bekanntheit wuchs, die Gesellschaft wurde offener. Ab den 1980er-Jahren arbeitete er von morgens bis in die Nacht hinein.

Die Zahl der Tattoostudios blieb in jener Zeit tief. Viele scheiterten am Löten der Nadeln oder am Gewicht der Maschinen. Heute sind Nadeln chinesische Fertigware; die leichteren Maschinen ermöglichen auch Frauen die Arbeit. Mehr Tattoostudios fördern die Akzeptanz von Tattoos, und umgekehrt treibt die Nachfrage das Angebot hoch.

Heute hat ungefähr jede sechste Person in der Schweiz mindestens ein Tattoo. Unter den Jüngeren soll jede und jeder Zweite ein Tattoo als Hautschmuck tragen. Inspiration kommt oftmals von Berühmtheiten. Einzelne hätten einen riesigen Einfluss gehabt, sagt Dischy. Fussballer David Beckham (47), zum Beispiel, habe mit den Sportfans ein riesiges Kundensegment eröffnet.

Motive waren begrenzt

Suchten sich die Kunden früher Motive aus Vorlagebüchern bei ihm im Studio aus, kommen die Inspirationen heute aus dem Internet. «Die meisten schicken mir vorher ein Foto», sagt Dischy. Zu Beginn dominierten maritime Motive wie Schiffe oder Anker, auch Vögel oder Grosskatzen waren gefragt. «Heute gibt es nichts, was man nicht machen muss», sagt Dischy. Hielt ein Trend früher ein paar Jahre an, ist heute alle paar Monate etwas anderes angesagt. Konstant über alle Jahrzehnte nachgefragt ist der Totenkopf.

Anders als einige seiner Kollegen und Kolleginnen sieht sich Pionier Dischy nicht als Künstler: «Für mich ist es ein Handwerk.» Er setzt um, was die Kundinnen und Kunden wünschen. Dischy hat seinen Weg ohne Onlinepräsenz gemacht: Seine Arbeiten veröffentlicht er nicht, seine Website bietet wenig mehr als eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer.

Stolz auf die «Helvetica»

Hierzulande hätten wir zwar nicht eine Tätowierkultur, derer sich andere Länder rühmen, sagt Buchautor Clément Grandjean. Etwa Deutschland mit seinen Hafen- und Seefahrermotiven. Oder Frankreich, dessen Tattootradition in den Straflagern und Strafbataillonen Nordafrikas entstand. Dafür aber besondere Fähigkeiten im Grafikdesign: «In der Schweiz haben wir eine solide visuelle Kultur, die durch eine nationale Tradition des Grafikdesign- und Typografieschaffens mit der legendären Schriftart Helvetica als Ikone geprägt ist», sagt der Kunsthistoriker.

Zur Tätowiererin oder zum Tätowierer wird heute kaum jemand mehr einzig durch Ausprobieren und Abschauen wie Dischy damals. Typisch für den Werdegang jener, die in den 2010er-Jahren zu arbeiten anfingen, als die Szene so richtig in Fahrt kam, sind: Studium in Grafikdesign, Berufserfahrung als Grafikerin, Veröffentlichung von Flashs (Einzelmotiven) in den sozialen Medien, schliesslich Ausbildung bei einem gestandenen Tätowierer. Eine eidgenössisch anerkannte Berufslehre gibt es nicht. Besonders in diesen jüngsten Generationen von Tattoo-Artists sei die Vermischung von Genres spürbar, sagt Grandjean.

Dischy sitzt zurückgelehnt im kurzärmligen Hemd in seinem Studio. Tattoos in Schwarz bedecken seine Haut bis zu den Handgelenken. Der Stierkopf existiert seit über 40 Jahren nicht mehr. Die Motive auf seinen Armen waren ihm bald nicht mehr wichtig, es sollte einfach füllen, meint er. «Ziehe ich etwas Langärmliges an, kann ich mich bewegen, wo ich will», sagt er. Vielleicht sei es eine veraltete Vorstellung, dass er seine Tattoos und damit seine Geschichte nicht jedem jederzeit zeigen will. «Aber mir gefällt es so.»

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