Die Magie der Klassentreffen
«Weisch no?» – wenn wir Schulgschpänli wieder treffen

Die Streberin, der Lausbub, die Scheue, der Faule: In der Schule lernen wir erstmals eine breite Palette von Charakteren kennen. Und bei einem Klassentreffen sehen wir uns alle wieder – Einladung zur beliebten Zeitreise.
Publiziert: 18.09.2021 um 20:19 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2021 um 20:37 Uhr
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Die Schweizer Psychologin Julia Onken ging an eine Klassenzusammenkunft aus ihrer Primarschulzeit.
Foto: Monika Schwarz
Daniel Arnet

Die Schweizer Psychologin Julia Onken (79) ist eine gestandene Frau. Trotzdem bekommt sie einen Brief mit der Anrede: «Liebi Maitli und Buebe!» Doch die Feministin ist nicht etwa beleidigt, sondern ganz im Gegenteil hocherfreut – sie fühlt sich Jahrzehnte zurückversetzt, denn es ist die Einladung zu einem Treffen ihrer Klasse aus der Primarschulzeit in der Ostschweiz. Selbstverständlich nimmt sie teil.

«Klassentreffen. Einladung in die unaufgeräumte Vergangenheit – ein psychologischer Bericht» nennt Onken ihr Buch, das sie darauf schreibt und nun veröffentlicht. Eine Kernaussage darin: «Ein Klassentreffen ist wie eine abenteuerliche Reise in die eigene Vergangenheit, wo wir auf einstige Weggefährten treffen, mit denen uns eine gemeinsame Geschichte verbindet.»

25'000 Klassenfotos, 1,3 Millionen Mitglieder

Eine Zeitreise, die in der Schweiz offensichtlich viele gerne auf sich nehmen: Allein auf der Internetplattform Stayfriends.ch sind gegen 25'000 Klassenfotos einsehbar und 1,3 Millionen Mitglieder registriert, die mit ihren Schulgschpänli in Kontakt treten wollen. Und auch unser Aufruf auf Blick.ch, uns Erlebnisse von Klassenzusammenkünften zu erzählen, stösst auf reges Interesse.

Denn jede und jeder war einmal mit Gleichaltrigen zusammengewürfelt in Klassen eingeteilt, in denen alle mehr oder weniger freiwillig eine Rolle spielten: die Streberin, der Coole, die Schöne, der Italiener, die Bohnenstange, der Dicke, die Scheue, der Lausbub, die Rothaarige, der Faule … Es ist das erste Mal im Leben, dass sich uns eine breite Palette von Charakteren präsentiert, das erste Mal, dass die Welt zu uns kommt, das zweite Mal, dass wir auf die Welt kommen.

«Wir lernen von unseren Schulkameradinnen und -kameraden eine neue Welt kennen», sagt Onken. «Sie öffnen uns das Fenster für neue Lebensmodelle.» Wir leben bis zum Schuleintritt in einem fest umrissenen Familiensystem. «Auch wenn es noch so lebensfeindlich war, gingen wir davon aus: So funktioniert die Welt, und das sind die Regeln, an die wir uns zu halten haben», sagt sie.

Und nun verändert sich durch neue Erfahrungen die Sichtweise. Onken erzählt im Buch, wie sie ihre Schulfreundin Loni bei ihr zu Hause abholt und dabei beobachtet, wie sich Lonis Eltern innig liebkosen. «Dieses Ereignis setzte mich für einen Augenblick beinahe in Panik», schreibt Onken. «Ich hatte nicht gewusst, dass sich Eltern umarmen, ja sich sogar heftig küssen, überhaupt Freude aneinander haben! Meine Eltern waren ganz anders.»

Nun sind die damaligen Kinder selber Eltern und treffen sich nach Jahren wieder. «Weisch no?» Mit dieser Frage tritt eine Klassenzusammenkunft normalerweise in die erste Phase. Damit lässt sich das Gefühl der Vertraut- und Verbundenheit schaffen. In der zweiten Phase folgen Einzelgespräche, in denen sich die Teilnehmenden gegenseitig erzählen, was in der Zeit seit der letzten Begegnung passiert ist.

Klassentreffen als klasse Treffen?

Das sind zwei wesentliche Erkenntnisse aus der Doktorarbeit der Marburger Universitätsprofessorin Sabine Maschke (58). 2013 veröffentlicht die deutsche Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin ihre Dissertation erneut und erweitert, dieses Mal unter dem populären und zweideutigen Titel «Klasse(n)Treffen. Vom Suchen, Wiederfinden und Entdecken» (Scoventa-Verlag).

Das Klassentreffen als ein klasse Treffen? Klar doch, denn beim Wiedersehen zeigt sich, was Menschen mit vermeintlich ähnlichen Anfangsbedingungen erreicht haben, wer es wie weit gebracht hat. «Letzte Woche war Klassentreffen», singt Udo Lindenberg (75) in seinem Song «Da war so viel los». «Da sah ich sie wieder / die missglückten Helden, die jetzt Beamte sind, / die Bonnies und Clydes von früher, / jetzt als Herr und Frau Bieder. / Die Power von damals ist leider hin, / und Fritz der Cowboy wurde nur / Manager bei der Müllabfuhr.»

Niemand kann sich des Gefühls der Genugtuung erwehren, wenn der Klassenbeste und Lehrerliebling nicht die angestrebte Karriere machte. Keine und keiner ist davor gefeit, sich heimlich über die Falten im Gesicht der Barbie-Beauty zu freuen. Und gross ist das allgemeine Erstaunen, wenn sich der Faule als Frühaufsteher und Besitzer einer florierenden Bäckerei präsentiert.

Julia Onken ist allerdings anderer Meinung: «Ich glaube nicht, dass der Vergleich im Vordergrund steht», sagt sie. «Irgendwie ist man einfach erschüttert oder erfreut, was aus jemandem geworden ist.» Das bestätigt Blick-Leser Walter Bäni: Mit 50 nahm er an einem Treffen teil, wo ein Mann auftauchte. «Wer ist denn das? Ein ehemaliger Lehrer? Es war ein Klassenkamerad! Er war massiv gealtert, ein alter Mann, wir konnten es kaum glauben. Ja, das Älterwerden geht mit den Menschen unterschiedlich um.»

Umgekehrt verhielt es sich bei einer Leserin, die eine teilnehmende Lehrerin für eine Mitschülerin hielt. Und bei Leser Walter Enders führte eine ähnliche Erfahrung zu einer Selbsterkenntnis: «Ich wollte an das Treffen, sah aber nur alte Leute», schreibt er auf unseren Aufruf. «Ich dachte, ich hätte die Einladung nicht richtig gelesen – bis eine ältere Frau mir meinen Namen zurief. Da musste ich feststellen, dass auch ich ein alter Mann geworden bin.»

«Ich will diese Gesichter nie mehr sehen»

«Sich mit jenen Menschen wieder zu treffen, mit denen wir als Kind viel Zeit verbracht und die uns in der Konstruktion unserer Identität wesentlich beeinflusst haben, ist wie ein Spiegel des eigenen Entwicklungsprozesses», schreibt Onken in «Klassentreffen». Vielleicht lasse sich so die Frage beantworten, wie wir die geworden seien, die wir seien. Der Blick zurück bringe uns näher zu uns selbst, zu unserem innersten Kern.

Und Onken sagt ergänzend: «Vor allem ist interessant festzustellen, dass sich bestimmte Verhaltensweisen, Bewegungen und Eigenarten bis zum heutigen Tag erhalten haben.» Es sei denn, man war bei der Klassenzusammenkunft von Leser Hanspeter Kiestler, an der eine Daniela teilnahm. «Wir hatten zwar einen Daniel in der Klasse, der bisher an kein Treffen kam, jedoch keine Daniela.» Es stellte sich heraus: Es war die gleiche Person, die eine Geschlechtsangleichung vornahm – ein Befreiungsakt.

Zahllose biografische Zeugnisse belegen eindrucksvoll, dass die Gleichung «schwere Kindheit gleich glücklose Zukunft» falsch sei, schreibt Onken in «Klassentreffen»: «Gerade die Auseinandersetzung mit einem schwierigen Elternhaus, das nicht in der Lage war, Schutz und Orientierung zu vermitteln, fordert die Eigenleistung heraus, nötige Entwicklungsschritte zu vollziehen, um überhaupt zu überleben.»

Überleben: Darum geht es für viele schon während der Schulzeit – sei es, weil sie mit dem Schulstoff überfordert sind, sei es, weil sie Mobbingopfer von Mitschülerinnen oder Mitschülern sind. Letzteres ist für manche Blick-Leserinnen, manchen Blick-Leser, die uns schrieben, der Grund, weshalb sie später nie an eine Klassenzusammenkunft gehen. «Ich will diese Gesichter nie mehr sehen in meinem Leben», schrieb einer, der nicht genannt sein will.

Man könnte sich für die früher erlittene Schmach allerdings auch rächen – ein Motiv, das Krimi- und Thriller-Autoren für ihre Bücher des Öfteren aufgreifen. Etwa der Schweizer Pfarrer Ulrich Knellwolf (79) mit seinem Krimi «Klassentreffen» (1995), worin die Teilnehmer die letzte Seite nicht überleben, oder der deutsche Krimiautor Klaus-Peter Wolf (67) mit seiner Erzählung «Mörderisches Klassentreffen» (2001), in der sich Schüler an einem ehemaligen Lehrer rächen.

Anne-Marie Blanc als Racheengel in «Klassezämekunft»

Für mehr Aufsehen sorgt 1988 ein Schweizer Film mit Starbesetzung: Die alte Schauspielgarde tritt unter anderem mit Anne-Marie Blanc (1919–2009), Ursula Andress (85) und Ruedi Walter (1916–1990) in «Klassezämekunft» auf. Blanc spielt darin Senta von Meissen, die ihre Klasse zu sich ins Schloss einlädt, um sich für den Mord an ihrem Schulfreund Teddy während der Maturareise zu rächen. «Anspruchslos-banale Kriminalgeschichte nach dem Prinzip der Zehn kleinen Negerlein», urteilt das «Internationale Filmlexikon».

Wie auch immer: Klassenzusammenkünfte scheinen böse enden zu können – allerdings bloss in der Fantasie von Krimi- und Drehbuchautoren. Denn in der Realität lohne sich eine Teilnahme an einem solchen Treffen fast immer, ist Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin Maschke überzeugt. Für ihre Forschungsarbeit besuchte die Professorin verschiedene Klassentreffen, und sie sah: Menschen gingen meist gestärkt aus einer solchen Veranstaltung heraus.

Auch Psychologin Onken ist von der positiven Wirkung einer Klassenzusammenkunft überzeugt: «Wir sitzen alle im selben Boot», sagt sie, «wir sind alle in die Jahre gekommen – es gibt wenig Spielraum, um sich gegenseitig etwas vormachen zu wollen.» Nur wenn man sich einst in ein adrettes Bübchen vergafft habe, das auf dem Rennvelo sportlich flott seine Runden drehte, und wenn dieselbe Person nun als alter Mann am Rollator zum Treffen komme, «da könnte man doch kurz losheulen vor Gram».

Macht es denn einen Unterschied, ob die Klassenzusammenkunft einer Primarschule oder eines Gymnasiums ansteht? Onken winkt ab: «Ich habe inzwischen an Treffen verschiedener Stufen teilgenommen und konnte keine gravierenden Unterschiede feststellen.» Entscheidend sei, ob man spontan Lust auf ein solches Treffen habe. «Als ich die Einladung mit der Anrede ‹Liebi Maitli und Buebe!› erhielt, da musste ich nicht lange nachdenken», sagt sie.

So gelingt das Klassentreffen

PERSONEN: Möglichst alle einladen! In älteren Klassen ist die Suche nach den ehemaligen Mitschülerinnen aufwendig, da sie meist nicht mehr unter ihrem Mädchennamen zu finden sind. Zu überlegen ist auch, ob eine frühere (beliebte) Lehrperson dabei sein soll.

ORT: Enge, laute Restaurants sind wenig ratsam. Geeigneter und erinnerungsträchtiger sind Treffen in der ehemaligen Schule oder ein Ausflug mit einem gemütlichen Spaziergang, auf dem sich die Ehemaligen in unterschiedlichen Konstellationen sprechen können.

ZEIT: Jubiläen des Schulabschlusses oder runde Geburtstage der Klassenmitglieder sind der beste Zeitpunkt, um sich zu treffen. Unbedingt genügend Zeit für den Anlass einplanen, sonst bleibt man in der Erinnerungsphase stecken und erfährt nichts Neues voneinander.

HANDLUNG: Ein Rahmenprogramm ist hilfreich, damit das Treffen nicht peinlich wird, weil man sich nichts zu sagen hat. Es braucht nicht viel: Ein kurzer einführender Vortrag oder Erinnerungsstücke wie Texte, Fotos und Zeichnungen bringen Schwung in den Abend.

PERSONEN: Möglichst alle einladen! In älteren Klassen ist die Suche nach den ehemaligen Mitschülerinnen aufwendig, da sie meist nicht mehr unter ihrem Mädchennamen zu finden sind. Zu überlegen ist auch, ob eine frühere (beliebte) Lehrperson dabei sein soll.

ORT: Enge, laute Restaurants sind wenig ratsam. Geeigneter und erinnerungsträchtiger sind Treffen in der ehemaligen Schule oder ein Ausflug mit einem gemütlichen Spaziergang, auf dem sich die Ehemaligen in unterschiedlichen Konstellationen sprechen können.

ZEIT: Jubiläen des Schulabschlusses oder runde Geburtstage der Klassenmitglieder sind der beste Zeitpunkt, um sich zu treffen. Unbedingt genügend Zeit für den Anlass einplanen, sonst bleibt man in der Erinnerungsphase stecken und erfährt nichts Neues voneinander.

HANDLUNG: Ein Rahmenprogramm ist hilfreich, damit das Treffen nicht peinlich wird, weil man sich nichts zu sagen hat. Es braucht nicht viel: Ein kurzer einführender Vortrag oder Erinnerungsstücke wie Texte, Fotos und Zeichnungen bringen Schwung in den Abend.

Julia Onken, «Klassentreffen. Einladung in die unaufgeräumte Vergangenheit – ein psychologischer Bericht», C. H. Beck

Online-Buch-Vernissage von Julia Onkens «Klassentreffen» am Dienstag, 28. September, 19 Uhr. Anmeldung: sekretariat@frauenseminar-bodensee.ch

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