Die elektronischen Signale machen uns krank
Wir wollen keinen Pieps hören!

Überall piepst es. Was die meisten einfach nur nervt, ist für Experten der Anfang vom Ende der Freiheit.
Publiziert: 10.09.2017 um 10:51 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 11:10 Uhr
Silvia Tschui (Text), Bruno Muff (Illustration)

Es gibt einen Ton der Hölle. Er verfolgt uns. Überall. Wenn die Zugtüre auf- oder zugeht. Piep, piep! An der Migros-, Coop- oder Denner-Kasse. Piep! Im Auto beim Parkieren oder bei sonstigen Aktionen. Piep! Am schlimmsten: zu Hause. Wenn die Mikrowelle fertig ist. Wenn der neue Kühlschrank offen steht. Und am allerschlimmsten: wenn man nach dem Znacht die Abwaschmaschine, Waschmaschine oder den Trockner fertig geladen hat, auf den Sparstrom wartet. Kaum liegt man später wohlig einnickend im Bett: Piep, piep, piep! Die Geräte geben keine Ruhe, bis man sich um sie gekümmert hat.

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1951: Als Erster beschreibt der englische Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke 1951 in «The Sands of Mars» (Die Sandwüsten des Mars) einen hohen, unangenehmen, künstlichen Ton als «Beep» (Pieps).
Foto: imago stock

In einer modernen Wohnung verfolgt uns der Ton der Hölle sogar in den Schlaf. Und bringt so Menschen beinahe um den Verstand: 227 000 Seiten zum Thema «kitchen appliances beep» («Piepsende Küchengeräte») spuckt Google aus. Verzweifelt suchen Menschen online nach Antworten auf die Frage, wie man die ungewollten Akustiksignale ausschalten kann. Die genereller gehaltenen Suchbegriffe «beeps driving me insane» («Gepiepse macht mich wahnsinnig») verweisen gar auf 352 000 Links, in welchen sich Leute in allen erdenklichen Lebenslagen über jedes erdenkliche Gepiepse aufregen.

Der Pieps fräst sich ins Gehirn – und löst Stress aus

Foto: Bruno Muff

Weshalb nervt das künstlich erzeugte Geräusch derart? Michael Schutz (39), ein Kanadier, der sowohl in Psychologie habilitiert wie auch Musik studiert hat und die beiden Fachgebiete in Büchern und international gefragten Vorträgen verbindet, weiss die Antwort: «Eben, weil es ein künstlich erzeugtes Geräusch ist.» Der Autor des Lehrmittels «The Psychology of Music in Multimedia» («Die Psychologie der Musik in Multimedia») setzt noch einen drauf: «Unsere Hirne sind evolutionstechnisch schlicht nicht auf Geräusche eingerichtet, die abrupt beginnen und abrupt aufhören – die meisten Geräusche in der Natur wie Vogelgesang, knarrendes Holz oder Schritte steigen in der Lautstärke an und schwellen wieder ab.» Abrupte Töne in der Natur lösen hingegen Stress aus. Man denke an unvermittelt einsetzenden Donner. Auch elektronisch erzeugte Piepse setzen abrupt ein, und das bei konstant reiner Tonhöhe und gleicher Lautstärke. «Unser Hirn kennt solche Töne aus der Natur nicht, kann sie nicht einordnen und reagiert darauf jedes Mal mit einer kleinen Adrenalinausschüttung», sagt Schutz – elektronisch erzeugte Piepse führen zu Stress.

Der deutsche Hirnforscher und Professor Rainer Guski geht sogar noch einen Schritt weiter. Er leitet an der deutschen Universität Bochum eine Lärmwirkungsstudie, welche Zusammenhänge zwischen Lärm, Belästigung, Denkprozessen und Gesundheit untersucht. Guski warnt vor zu vielen Alarmsignalen – sie führten zu einer erhöhten Fehlerquote, insbesondere im beruflichen Umfeld. «Was in einer Küche bloss nerven kann, ist beispielsweise auf Intensivstationen ein echtes Problem: Die meisten medizinischen Geräte können akustische Warnungen abgeben. Zu viele davon bedeuten für das Personal einen erhebli­chen Stress, der zu Fehlern führen kann.» Bei Alarmsignalen wie Rauchmeldern ist das absichtliche Auslösen von Stress gut begründet. Doch Haushaltsgeräte retten keine Leben. Die Hersteller stellen uns im Namen der Sicherheit aber trotzdem stresserzeugende Geräte in unsere Wohnungen.

Die Frage ist: Weshalb? Wenn schon Geräusche erschallen müssen, könnten ja auch zartes Vogelgezwitscher oder Geigentöne durch die Wohnung klingen. Idealerweise könnte jeder selbst einstellen, welches Geräusch er wofür hören will – oder ob überhaupt eins erklingen soll.

Der deutsche Psychoakustik-Professor Bernhard Seeber von der renommierten Technischen Universität München bedauert, dass Hersteller nicht innovativer sind: «Würden sie mit so­genannten Earcons ­arbeiten, könnten akustische Signale viele Funktionen übernehmen, ohne den Konsumenten zu nerven.» Earcons sind extra von Sound­designern erarbeitete, meist angenehm klingende akustische Wiedererkennungssignale. Erfolgreiche Earcons kennen wir beispielsweise vom Aufstarten eines Apple-Computers oder eines Mobiltelefons. Auch das nach zehn oder fünfzehn Jahren sofort wiedererkennbare «Bi-Bii-Lümbüm» der einst wichtigsten Handymarke Nokia zählt dazu.

Ständig zupft einen jemand am Rock

Während die Hersteller neuerer ­Unterhaltungsgeräte wie Computer, XBox oder Playstation längst auf ­auditives Branding achten, ­setzen Hersteller konventioneller Dienstleistungsgeräte wie Geschirrspülmaschinen oder Waschmaschinen seit jeher auf den profanen, stress­erzeugenden Piepton – aus dem einfachen Grund, weil er billig ist. Um einen Ton zu erzeugen, muss man nur eine Oberfläche zum Vibrieren bringen. Dazu braucht es eine kleine Membran und eine elektromagnetische Spule – fertig ist der einfache, nervtötende Warnton.

Alles piept: Auto, Handy, Mikrowelle. Elektronische Geräte rauben uns den letzten Nerv.
Foto: Bruno Muff

Um bessere Geräusche und Klänge zu erzeugen, bräuchte es bessere Ausgangsmaterialien und etwas mehr Platz. Vielen Herstellern ist dies zu teuer. Entsprechend verschlossen geben sie sich: Das Schweizer Küchengeräte-Unternehmen V-Zug will überhaupt keine Auskunft darüber geben, ob sich beispielsweise Kunden über das Gepiepse beschweren und ob sie ­einen Sounddesigner beschäftigen. Gesprächiger gibt sich die ­Firma Elec­trolux. Die überlässt dem Kunden immerhin die Möglichkeit, einige der Pieps-Funk­tionen auszuschalten. Nur wenn das Gerät beschädigt werden könnte, piepst es.

Trotzdem: Noch vor ­ei­nigen Jahren konnten wir gut ohne piepsende Kühlschränke leben. Liess man die Tür offen, vereiste er halt, und man musste ihn abtauen. Wer das ein paar Mal hinter sich gebracht hatte, schloss für den Rest des ­Lebens den Kühlschrank richtig. Wir konnten, für heutige Autohersteller wohl unvorstellbar, sogar ohne Piepsen rückwärts parkieren – weil wir die Abmessungen unseres Autos im Gefühl hatten. Und wir haben es sogar ­geschafft, sauber angezogen zu sein, ohne dass die Waschmaschine uns zuvor angepiepst hat, sie sei – «im Fall!» – mit ihrem Waschgang fertig. «Jetzt! Schau! Räum mich aus! Jetzt! Sofort!» 

Der Geschirrspüler weist mit einem schrillen Piepton aufs Programmende hin.
Foto: Bruno Muff

Es hat uns schlicht nicht ständig eine nervige Gouvernante am allegorischen Ärmel gezupft, um unser Verhalten zu verbessern. Mit Grauen überlegt man sich, wie das dann aussehen soll, wenn erst noch smarte Kühlschränke, Kleidungsstücke und Uhren unsere Daten sammeln und uns ermahnen. Schrillt dann jedes Mal ein Alarm-Piepton auf der Smartwatch, wenn man ein Stück Schokolade aus dem Kühlschrank nimmt? Zählt mein Kühlschrank meine konsumierten Kalorien und piepst, wenn ich ein Limit überschreite? Zahle ich am Ende mehr Krankenkasse, weil mein piepsender Kühlschrank aus der Hölle mich überwacht?

Ingenieure denken, Menschen seien per se doof

Was überzeichnet klingt, könnte bald Realität sein. Schon 2008 titelte die einflussreiche Wirtschaftszeitung «The Economist»: «Die Menschen sind fehlbar, faul, schwach, gierig und dumm». Der Denkschluss daraus: Es brauche Produkte und Prozesse, welche die Menschen dazu anhalten, sich im Sinne der Hersteller und Politik besser zu verhalten. Dahinter verbirgt sich eine ganze Theorie. Sie nennt sich Nudging (Stupsen) und wurde vom US-Rechtsprofessor und Verhaltensökonomen Cass Sunstein entwickelt. Die Theorie geht davon aus, dass Menschen oft nicht so entscheiden, wie es für sie am besten wäre. Also müssen sie zur richtigen Entscheidung geschubst werden.

Als bekanntes Beispiel für die Theorie gilt die Fliegen-Attrappe im Pissoir, welche die Verschmutzung in Herrentoiletten um 80 Prozent sinken liess. Sunstein leitete unter dem US-Präsidenten Barack Obama vier Jahre das «Office of Information and Regulatory Affairs», das Kosten und Nutzen von neuen Gesetzen abwägt – und setzte so seine Theorie, dass Nudging oft mehr bringt als Gesetze, in die Praxis um. Im Falle von Gesundheitsversicherungen und Pensionskassenbeitritten (siehe Interview mit der Verhaltensökonomin Iris Bohnet ab Seite 11) ist das eine ­feine Sache. Im Konsumbereich aber eher weniger, denn längst machen sich auch Ingenieure und Techniker die Erziehungsmethode zunutze und glauben, sie müssten uns – unter anderem mit Piepsen – zu besseren, vorsichtigeren Menschen erziehen.

Die ständigen Ermahnungen lassen uns verblöden

Einer, für den dieses Nudging ein rotes Tuch bedeutet, ist der renommierte deutsche Risikoforscher und Psychologieprofessor Gerd Gigerenzer (70). Er leitet seit 1997 als Direktor das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in München sowie ein 2009 gegründetes Zentrum für Risikokompetenz in Berlin. Gigerenzer findet klare Worte zum Piepsen: «Dem Nudging liegt ein zutiefst negatives Menschenbild zugrunde. Die Planer unterstellen, dass Menschen inkompetent sind, vernünftig ihr Leben zu meistern. Aber anstatt zu erklären und zu informieren, setzen die Hersteller auf schulmeisterhafte Warntöne.»

Gigerenzer sieht in dieser zunehmenden Gängelung des Konsumenten eine gesellschaftliche Tendenz – und auch eine politische ­Absicht: «Erinnern Sie sich an die Vulkan-Aschewolke über Island, die Subprime-Krise oder an Rinderwahn? Wir ängstigen uns über eine Krise nach der anderen. Und uns wird jedes Mal gesagt, wir bräuchten bessere Technologie, mehr Kontrollen, mehr Überwachung. Umfassendere Nachrichtendienstgesetze, BodyScanner am Flughafen etc., um uns vor der nächsten Krise zu schützen.»

Gigerenzer bemängelt, dass wir so scheibchenweise persönliche Freiheit aufgeben müssen – ungefragt. Was fehle, sei eine Grundsatzüberlegung: Würden die Menschen auf Risiken geschult, verhielten sie sich auch entsprechend. Seine Forschung bestätigt: Jedermann kann lernen, in einer komplexen Welt mit Risiken umzugehen. Wir sind nicht grundsätzlich faul, schwach, gierig und dumm. Gigerenzer ergänzt: Wenn Ökonomen davon ausgehen, die Menschheit sei blöd, und ihre Produkte dementsprechend gestalten, so verblöden wir tatsächlich langsam.

Er plädiert für Eigenverantwortung: «Früher waren Lesen und Schreiben Bedingung für eine funktionierende Demokratie. Heute steht und fällt sie damit, dass sich Menschen der Risiken im Leben bewusst sind. Kennt der einzelne die Risiken modernen Lebens und der Technologie nicht, riskiert er sein Geld und seine Gesundheit. Wir müssen kritisches Denken bewahren oder neu lernen und keine Produkte gestalten, die uns wie unwissende Kinder behandeln!»

Es bleibt dem Konsumenten leider oft nur Sabotage

Fazit: Der Pieps stresst uns nicht nur. Der Ton lässt uns verblöden und ist zudem ein Schritt auf dem Weg in die Überwachungshölle. Doch wie lässt er sich vermeiden? Im öffentlichen Leben ist der Fall klar: Nervige Handytastatur-Töne im öffentlichen Verkehr auszuschalten, ist ein Höflichkeitsgebot. Und zu Hause gibt es nur eine Möglichkeit: Wer Glück hat, kann beim Einbau eines neuen Geräts die Piep-Häufigkeit beim Her­steller anfragen und dement­sprechend entscheiden. Mietern bleibt leider nur, Hersteller mit Telefonanrufen zu terrorisieren und zu fragen, wie man die ­nervtötende Belästigung ausschalten kann. Bei denen solls auch klingeln!

Ansonsten müssen Mieter mit dem Ton-Terror leben – oder im Internet nach Anweisungen suchen, wie man die Stress-Geräusche eigenhändig wegmontiert (doch, das gibts). Allerdings wird die Verwaltung keine Freude haben: Die meisten Geräte verlieren dann ihre Garantie. Für viele wohl allemal eine Option – der ungestörten Nachtruhe zuliebe.

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