Die Geschichte der Zwillinge Estha und Rahel hatte genügt, um sie 1997 quasi über Nacht zu Indiens neuer literarischer Herrscherin werden zu lassen: Arundhati Roy. Denn es war nichts weniger als Indiens von ungezählten Triumphen und noch mehr Niederlagen durchzogene Sozialgeschichte, die die damals 38-Jährige in ihrem weltweit gefeierten Romandebüt «Der Gott der kleinen Dinge» als magisch-realistische Erzählung einer Familie inszenierte. Für ihr in 21 Sprachen übersetztes Werk erhielt sie den renommierten «Booker Prize» – und die einstigen literarischen Machthaber Indiens, Salman Rushdie oder Vikram Seth, sahen plötzlich ziemlich alt aus.
Der seinerzeit entfachte Roy-Zauber hält bis heute an. Immer noch steht der Name der 1961 in Shillong, Meghalaya, geborenen Arundhati Roy für die Verkörperung der Idee, dass der amerikanische Traum, der besagt, dass man alles werden und erreichen kann, wenn man es nur wirklich will, auch in Indien machbar ist.Roy, einst Aerobic-Instruktorin und schauspielernde Drehbuchschreiberin, hatte es vorgemacht – und es mit gerade mal einem Buch zum literarischen Weltstar gebracht. Vor allem aber brachte sie es zum streitbaren moralischen Gewissen ihrer viel zu lange nach neuer internationaler Bedeutung hungernden Nation.So ist die inzwischen 56-Jährige bis heute eine der führenden indischen Intellektuellen, millionenfach geliebt und von ebenso vielen nicht weniger inbrünstig für ihre Streitlust gehasst. Roy geht keiner intellektuellen Schlacht und keinem politischen Gegner aus dem Weg. Fordert man die drahtige Person heraus, wird aus dem weiblichen David ein zorniger Goliath, der erbittert für die Rechte der Menschen und der Natur kämpft. Dass sie dabei übers Ziel hinausschiesst und den Nationalheiligen Mahatma Gandhi schon mal einen Bewahrer der Kasten schimpft oder Osama Bin Laden als dunklen Zwilling von George W. Bush tituliert, gehört bei ihr dazu. Wenn sie mobil macht – dann richtig. Roy ist bereit, mit Worten zu töten, wenn die Sache es verlangt.
Sie kämpft gegen alles, was ihr ungerecht scheint
Und sie mischt sich gern und viel ein. So verstrickte sie sich in den zurückliegenden 20 Jahren in eine ganze Reihe aufsehenerregender Scharmützel, polemisierte, knurrte, prangerte an. Sie bekämpfte leidenschaftlich ein Staudammprojekt, Indiens atomare Aufrüstung, den Hindu-Nationalismus in ihrem Land oder den Irak-Krieg. Im Jahr 2002 wurde sie wegen Missachtung des Gerichts vom indischen Supreme Court in Neu-Delhi zu einem Tag Haft verurteilt, weil sie den Richtern vorgeworfen hatte, sie hätten Proteste gegen das Narmada-Staudammprojekt unterdrücken wollen. Ein Preis, den sie damals klaglos zahlte. Roy achtet die Regeln des Kampfes: Wer austeilt, muss auch einstecken können.
2004 wurde die Dichterin für ihr soziales Engagement und ihr Eintreten für Gewaltfreiheit mit dem Sydney Peace Prize ausgezeichnet. Die Liste ihrer politischen Teilerfolge und Auszeichnungen ist ungleich länger als die ihrer Publikationen. Bis auf eine Handvoll Sammlungen von Essays, die Bände «Die Politik der Macht» von 2002 oder «Aus der Werkstatt der Demokratie» (2010) hielt Roy sich literarisch lange bedeckt.
Zurück auf der grossen Bühne der Weltliteratur
Damit ist nun aber Schluss. Jetzt, fast auf den Tag genau zwanzig Jahre nach dem Erscheinen ihres Erstlings «Der Gott der kleinen Dinge», legt Arundhati Roy mit «Das Ministerium des äussersten Glücks» endlich ihren zweiten Roman vor.
Die Schriftstellerin und Aktivistin ist zurück auf der weltliterarischen Bühne. Doch ihre persönliche Messlatte liegt seit Erscheinen ihres Erstlings hoch. Und verglichen mit «Der Gott der kleinen Dinge» wirkt «Das Ministerium des äussersten Glücks» seltsam zwiespältig. Es ist ein Buch, das scheinbar furchtlos pendelt zwischen Weltliteratur und Kitsch, zwischen hartem magischem Realismus und den Sacharin-süssen Scheherazaden, welche die professionellen Geschichtenerzähler in den Strassen Neu-Delhis tagtäglich für ein paar Rupien unters Volk streuen. Doch worum genau geht es im neuen Roman, in dem Roy erneut ihre Stimme mit kämpferischer Wut erhebt?Wieder leiht die selbst ernannte Anwältin der Unterdrückten diesen Menschen ihre Stimme. Und wieder sind es die grossen Themen, die sie anspielt: Vergewaltigungen, Massaker an Muslimen, 9/11, Irak-Krieg, Amerikas Grössenwahn, Bin Laden, Transgender-Problematik oder der in den Metropolen Indiens tobende Überlebenskampf.
Eine im Wutrausch verfasste Lektion in indischer Geschichte
Es beginnt mit dem als Hermaphrodit zur Welt kommenden Aftab, einem sogenannten Hijra. Wir erleben dessen problembeladene Verwandlung zur Frau und die lebende Hijra-Legende namens Anjum ebenso wie die Existenzkämpfe des jungen Saddam, der tote Kühe einsammelt, sie häutet und mit daraus gefertigten Lederwaren Handel treibt. Und dann ist da der namenlose Alte, der vor laufenden Fernsehkameras seinen Hungerstreik als öffentliches Schauspiel zelebriert. Über sie alle heisst es im Roman: «Die Unruhen finden in uns statt. Der Krieg ist in uns. Das wird sich nie beruhigen. Ist nicht möglich.»
Das liest sich anrührend und scheint stellenweise wie im Wutrausch verfasst – wirkt unter dem Strich aber oft so belehrend als halte die Autorin einen Schnellkurs in neuerer indischer Zeitgeschichte ab. Dabei türmt sie masslos so lange immer neue Schicksale und Ereignisse vor dem Leser auf, bis das Buch am Ende unter seiner schieren Faktenlast zusammenzubrechen droht.
Suzanna Arundhati Roy (56) ist im südwestindischen Bundesstaat Kerala geboren. Nach der Scheidung der Eltern wuchs sie bei der Grossmutter auf, studierte an der Delhi School of Architecture und heiratet einen Mitstudenten.
Vor ihrem Welterfolg «Der Gott der kleinen Dinge» (1997), für den sie den Booker Prize gewinnt, arbeitete sie als Blumenmädchen und Drehbuchautorin. Roy ist Aktivistin, Essayistin und verfasste mehrere globalisierungskritische Sachbücher.
Suzanna Arundhati Roy (56) ist im südwestindischen Bundesstaat Kerala geboren. Nach der Scheidung der Eltern wuchs sie bei der Grossmutter auf, studierte an der Delhi School of Architecture und heiratet einen Mitstudenten.
Vor ihrem Welterfolg «Der Gott der kleinen Dinge» (1997), für den sie den Booker Prize gewinnt, arbeitete sie als Blumenmädchen und Drehbuchautorin. Roy ist Aktivistin, Essayistin und verfasste mehrere globalisierungskritische Sachbücher.
Arundhati Roy «Das Ministerium des äussersten Glücks». Roman. Aus dem Englischen von Annette Grube. S. Fischer