Ich muss meine Schwindelfreiheit unter Beweis stellen. Ein Lift hat mich unters Dach der grössten Halle im Hauptquartier des Cirque du Soleil in Montreal gebracht. Sie ist genauso hoch wie die Kuppel des Zelts, in dem der kanadische Zirkus ab September mit der Show «Totem» in der Schweiz gastiert.
23 Meter. Sie stellen sich das nicht besonders hoch vor? Dann müssten Sie jetzt mit mir auf dem Netz aus dünnen Eisendrähten stehen, das in dieser Höhe aufgespannt ist. Das Handy musste ich abgeben. Würde es durch eine Masche nach unten fallen auf einen der von hier aus klitzekleinen Köpfe, wäre das lebensgefährlich.
Die Artisten, die unten gerade am Reck trainieren, mussten an ihrem Bewerbungstag alle auf dieses Netz. Um zu beweisen, dass sie keine Höhenangst haben. Ich spüre das wohlige Gefühl des Adrenalinkicks in der Magengrube. Es ist der Vorteil, beruflich bei solchen Aktionen mitzumachen: Rückzieher kommen nicht in Frage. Das heisst aber nicht, dass sich der Journalist nie fragt, was er da eigentlich alles mitmacht.
«Le Cirque», wie die Kanadier ihn nennen, hat mich nach Montreal eingeladen und ein Programm zusammengestellt mit Workshops und Besichtigung des internationalen Hauptquartiers mit seinen Trainingshallen und Ateliers.
Märchenästhetik trifft auf Industriechic
Das Gebäude aus den 90er-Jahren ist von aussen genauso schmucklos wie das Quartier Saint-Michel, in dem es liegt. Es ist das ärmste der französisch- und englischsprachigen Vier-Millionen-Stadt in der Provinz Quebec. 1500 der insgesamt 4000 Angestellten des Cirque arbeiten hier. Das Areal umfasst die Fläche von rund fünf Fussballfeldern. Im Innern trifft die oft als pseudopoetisch belächelte Märchenästhetik des Zirkus, der keine Tiernummern zeigt, auf die unterkühlte Architektur moderner Industriehallen.
Auf einem Stock entwerfen und produzieren 150 Mitarbeiterinnen mit Vornamen wie Lise, Martine oder Emmanuelle die aufwendigen Kostüme für die Shows. Es gibt Räume mit Kopfscannern, eine Lederfärberei, einen Hutmacher, ein Accessoire-Department. Und ein Archiv mit Stoffmustern aus Lycra in Farben wie Neongrün, Perlmutt oder in 50 verschiedenen Hauttönen.
An den grauen Betonwänden in den Gängen hängen Plakate der 23 Produktionen, die gerade irgendwo auf der Welt am Laufen sind, und jede Menge Pinnwände. An ihnen Selfies von Artisten vor Sehenswürdigkeiten in Städten wie Peking, Mexico City oder Vilnius.
50 Nationalitäten mit 25 Sprachen vereint dieses Unternehmen. Die Regeln fürs Fitnesscenter neben der Kantine sind in Französisch, Englisch, Russisch, Chinesisch und Spanisch verfasst. Administrative Mitarbeiterinnen mit Lockenwicklerfrisuren strampeln hier über Mittag mit muskelbepackten Zirkusathleten um die Wette.
Vom Disney-Maskottchen zur Muskelmaschine
Mit Mei Bouchard, der ich beim Training zuschaue, möchte man keinen Streit haben. Die 26-jährige Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln und violett gefärbtem Haar hat die Oberarme einer Hammerwerferin. Ihre Disziplin: Aerial Straps, auf Deutsch Strapaten, zwei an der Decke befestigte Bänder, an denen sich Bouchard mit den Armen in die Luft wickelt und sich wieder fallen lässt wie ein Jojo am Faden. «Und noch mal», sagt die Trainerin, als ihre Schülerin schwer schnaufend wieder die Füsse auf den Boden setzt.
Von den 1400 Artisten, die der Cirque beschäftigt, sind rund ein Drittel ehemalige Profisportler, ein Drittel kommt aus der Zirkuswelt, ein Drittel sind Tänzer, Turner, Sänger oder Musiker. Bouchard wuchs in Florida auf, ihr Vater arbeitet für Disney. Mit elf beginnt sie neben der Schule täglich zu tanzen: Ballett, Stepptanz, das volle Programm.
Später lernt sie Luftakrobatik, nach der High School tritt sie im Disneyland von Orlando auf, posiert dort auch kostümiert mit Besuchern für Selfies. 2011 bewirbt sich Bouchard erfolgreich beim Cirque du Soleil, wo sie auch ihren heutigen Freund kennenlernt. An den Aerial Straps trainiert sie erst seit ein paar Jahren. Ein Kraftakt, der bisher Männern vorbehalten war. In einer neuen Show – Inhalt streng geheim – darf sie womöglich bald damit auf die Bühne. «Ich will die erste Aerial-Straps-Artistin des Cirque sein», sagt Bouchard nach dem Training.
In der Unterhaltungswelt der US-Vergnügungsparks habe sie gelernt, in eine Rolle zu schlüpfen und mit einem Publikum zu interagieren. «Das ist für einen Artisten zentral.» Ehemalige Profisportler haben anfänglich Mühe mit dem pantomimischen Aspekt ihres neuen Jobs, den übertriebenen Gesichts- und Körperbewegungen. Sie sind es gewohnt, hinzustehen und mechanisch ihr Programm herunterzurasseln.
Manche Neuanfänger sind bei der Ankunft im Hauptquartier erst 18 Jahre alt und so schüchtern, als wäre es ihr erster Tag im Internat. Zur Auflockerung machen Trainer mit ihnen eine Übung, bei der Zweierteams sich durch einen Raum bewegen, ohne den Blickkontakt zueinander zu verlieren.
In einer Ecke sitzt Zhan Iordanov. Der Trampolinspringer war einst Mitglied der ukrainischen Nationalmannschaft und gewann Bronze bei der Weltmeisterschaft. Als ihn sein Trainer an einer Olympiade auf der Ersatzbank sitzen liess, ging er zum Zirkus. «Wer es zum Cirque schafft, geniesst unter Artisten ein hohes Ansehen», sagt er. Heute reist seine Familie wenn möglich immer mit ihm mit. Dem Glatzkopf würde man seine 37 Jahre auch ohne das Bühnen-Make-up, das er gerade trägt, nicht ansehen. «Zirkus hält jung» – das sagen sie hier alle.
Vorausgesetzt, man überlebt ihn. Iordanov hat ein mehrmonatiges Reintegrationstraining hinter sich, nachdem er sich auf dem russischen Barren eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Bei der Disziplin, die auch in «Totem» zu sehen sein wird, steht er auf einem zwölf Meter langen, elastischen Holzbalken und wird von zwei anderen Artisten, die den Balken auf den Schultern tragen, in die Luft gespickt. Die Disziplin ist so gefährlich, dass während der Vorführung eine Matte am Boden liegt. Dasselbe gilt für Trapeznummern. Alle anderen sind ungesichert.
Das Nebeneinander verschiedenster Schichten und Kulturen scheint gut zu funktionieren, wenn beim Job das eigene Leben auf dem Spiel steht. Bouchard, die in intakten Familienverhältnissen an der US-Ostküste aufwuchs, und Iordanov, der von seinem Vater nur weiss, dass er mit einen Tanzbären durch die Ukraine zog – auf der Bühne ist jeder auf den anderen angewiesen.
Artisten weinten an der Schulter von «Mama Cirque»
Gerade Anfang März starb ein Artist bei einer Vorführung der Show «Volta» in Tampa, Florida, als er aus vier Metern Höhe vor den Augen des Publikums auf die Bühne fiel. Seine Disziplin: dieselbe, in der Mei Bouchard antritt. «Solche Tragödien erinnern uns daran, wie gefährlich unser Job ist», sagt sie.
Auf den Todesfall angesprochen, fällt bei jedem Mitarbeiter das professionelle Lächeln augenblicklich in sich zusammen. Selbst beim Verkauf- und Marketingspezialisten, der im Anzug über Geschäftszahlen referiert, legt sich ein wässriger Schleier über die Augen.
Die gute Seele des Hauptquartiers, Suzanne Richer, erzählt, wie sich die Artisten in solchen Momenten an ihrer Schulter ausheulen. Mama Cirque, wie alle sie nennen, empfängt die Neuankömmlinge, kümmert sich um ihre Arbeitserlaubnis und zeigt ihnen ihr Apartment im Wohngebäude nebenan.
Manchmal auch, wie eine Herdplatte oder eine Waschmaschine funktioniert. Ihr glaubt man, wenn sie über das Show-Imperium, für das sie arbeitet, sagt: «Wir sind eine grosse Familie.»
Die Erfolgsstory beginnt in den frühen 80er-Jahren mit einer Gauklertruppe. Ihre 20 Mitglieder ziehen auf Stelzen durch eine kanadische Kleinstadt, jonglieren und musizieren. Mit dabei Gründervater Guy Laliberté, heute Milliardär und Weltraumtourist.
Er reicht 1984 ein Show-Konzept mit dem Namen Cirque du Soleil fürs Jubiläumsfest zum 450. Jahrestag der Entdeckung Kanadas ein und bekommt den Zuschlag. Der «Zirkus der Sonne» tourt das erste Mal durch die Provinzen.
Ende der 80er startet der Cirque in den USA durch. Das popkulturell übersättigte Publikum dreht förmlich durch ob dieser Show, die es als eine typisch französisch-künstlerische empfindet und als pures Gegenteil des Stepptanz-Glamours, der am Broadway geboten wird.
Anfang der 90er folgt die Expansion nach Asien und Europa. Circus Knie bestreitet einmal sein ganzes Programm mit den kanadischen Artisten. Vor dem Hauptquartier steht ein überdimensionaler Clownschuh aus Metall – ein Geschenk des Schweizer National-Circus. Daneben der Parkplatz von Guy Laliberté, der hier selten gesehen wird.
Auch ein Museum für American Football gehört zur Firma
Zahlen kommuniziert der Cirque du Soleil nicht, das Magazin «Forbes» schätzt seinen Jahresumsatz auf eine Milliarde Dollar. Vor drei Jahren verkaufte Laliberté das Unternehmen zu 80 Prozent an einen amerikanischen und einen chinesischen Investmentfonds, der das Portfolio diversifiziert. Seit 2017 gehört die Multimedia-Trommelgruppe Blue Man Group dazu, im selben Jahr konzipierte der Cirque für die American-Football-Liga NFL ein Museum am Times Square in New York und für Helene Fischer eine Stadiontournee inklusive Auftritten hauseigener Artisten.
Über 180 Millionen Menschen haben bisher eine Cirque-Produktion gesehen. Allein die vielen permanenten Hotelshows in Las Vegas ziehen Tag für Tag schätzungsweise um die 10 000 Besucher an und bieten immer mehr Spektakel. In der Wassershow «O» im Hotel Bellagio bleiben die Artisten minutenlang unter der Oberfläche des Bassins, das als Bühne dient, und werden von Tauchern mit Sauerstoff versorgt. In «KÀ» im Hotel MGM Grand gibts gar keine Bühne mehr, die Show spielt sich über den Köpfen der Zuschauer auf einer Konstruktion ab, die an der Decke hängt.
Dort hänge ich jetzt auch. In einem Reifen an einem ca. 15 Meter langen Seil. Trainer Sergei, ein Russe, hat mich mit seinen riesigen Händen mit zwei Karabinern am Reifen gesichert, jetzt zieht er mich rückwärts in die Luft, als wäre ich ein kleines Kind auf einer Schaukel.
«Aaaaargh» wäre die Comic-Sprache für das Geräusch, das ich von mir gebe, als Sergei mich loslässt. Ein Flaschenzug zieht mich ruckartig in die Luft, mein Magen scheint von unten zuzusehen, wie ich hoch oben im Kreis herumfliege wie ein Pendel.
An den Fenstern der Büros, die rund um die Halle angeordnet sind, kleben belustigte Zuschauer, die eine Pariser Journalistin vor mir mit ihren spitzen Schreien anlockte. Mir beginnt die Sache zu gefallen. Sergei lässt mich runter und dreht mich im Reif um meine eigene Achse. Wenn ich mich ausstrecke, verlangsamt sich die Drehung, wenn ich mich zu einem Paket zusammenrolle, beschleunigt sie sich.
So muss sich ein Eiskunstläufer bei einer Pirouette fühlen. Mit dem Unterschied, dass ihm danach nicht schlecht ist.
Vom 5. September bis 14. Oktober gastiert der Cirque du Soleil seit drei Jahren erstmals wieder mit einem grossen Zelt in der Schweiz. Es wird auf dem Hardturm-Areal in Zürich aufgebaut und die Show «Totem» beherbergen. In ihr gehts im weitesten Sinn um die menschliche Evolution – von der kriechenden Amphibie bis zum neuzeitlichen Individuum, das vom Fliegen träumt. Die Show beinhaltet spektakuläre Akrobatik in Form von Rollschuh- und Trapeznummern oder humorvolle Elemente wie eine Strandszene inklusive Bodybuilder. «Totem» feierte 2010 in Montreal Weltpremiere und zählte seither mehr als fünf Millionen Besucher. Der Ticketvorverkauf für Zürich läuft.
Einige Artisten aus unserem Land haben es bereits zum Cirque du Soleil geschafft. Unter anderen Swiss-Award-Gewinner Nick Beyeler (Bild), der gerade mit «Toruk» um die Welt tourt. Der 42-Jährige aus Bösingen FR war Aerobic-Weltmeister. Dann spezialisierte er sich auf Akrobatikdisziplinen in der Luft, in denen er zum Beispiel an Bändern von der Decke hängt. Ebenfalls auf Tour ist Jan Dutler aus Hütten ZH. Der 31-Jährige spielt in «Ovo» eine trottelige Fliege. Ex-Spitzensportlerin Belinda Schmid (37) aus Volketswil ZH arbeitete sieben Jahre als Synchronschwimmerin in Las Vegas für die Show «O».
Vom 5. September bis 14. Oktober gastiert der Cirque du Soleil seit drei Jahren erstmals wieder mit einem grossen Zelt in der Schweiz. Es wird auf dem Hardturm-Areal in Zürich aufgebaut und die Show «Totem» beherbergen. In ihr gehts im weitesten Sinn um die menschliche Evolution – von der kriechenden Amphibie bis zum neuzeitlichen Individuum, das vom Fliegen träumt. Die Show beinhaltet spektakuläre Akrobatik in Form von Rollschuh- und Trapeznummern oder humorvolle Elemente wie eine Strandszene inklusive Bodybuilder. «Totem» feierte 2010 in Montreal Weltpremiere und zählte seither mehr als fünf Millionen Besucher. Der Ticketvorverkauf für Zürich läuft.
Einige Artisten aus unserem Land haben es bereits zum Cirque du Soleil geschafft. Unter anderen Swiss-Award-Gewinner Nick Beyeler (Bild), der gerade mit «Toruk» um die Welt tourt. Der 42-Jährige aus Bösingen FR war Aerobic-Weltmeister. Dann spezialisierte er sich auf Akrobatikdisziplinen in der Luft, in denen er zum Beispiel an Bändern von der Decke hängt. Ebenfalls auf Tour ist Jan Dutler aus Hütten ZH. Der 31-Jährige spielt in «Ovo» eine trottelige Fliege. Ex-Spitzensportlerin Belinda Schmid (37) aus Volketswil ZH arbeitete sieben Jahre als Synchronschwimmerin in Las Vegas für die Show «O».