Der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel widmet sein Buch der Generation von 1968
Das Jahr der Träume

1968 hat fast alles verändert. Der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel zeichnet in einem Buch den kulturellen Einschlag einer Generation nach, die alles anders machen wollte.
Publiziert: 10.10.2017 um 19:27 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 20:20 Uhr
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Ex-SBB-Chef Benedukt Weibel.
Foto: Kurt Reichenbach

Auf den Bahamas, wo die ­Beatles für den Film «Help» drehen, entdeckt George Harrison die Sitar. Das Instrument begeistert ihn, und er nimmt Kontakt mit dem damals schon legendären Sitar-Spieler Ravi Shankar auf, der ihm zeigt, wie man sitzen muss, um die Sitar richtig zu spielen. Für Harrison «ist es derzeit die einzige wirklich gute Musik, und daneben wirkt das westliche Zeug im Drei- oder Viervierteltakt irgendwie tot».

Der Melodiebogen von «Norwegian Wood» ist Kulturgut geworden, ebenso unverkennbar wie die Sitar, die hier erstmals in der Popgeschichte eingesetzt wird. George Harrison vertieft sich in die indische Kultur. Nicht nur die Musik, auch die Spiritualität zieht ihn an. Er reist für einige Wochen nach ­Indien und ist begeistert. «Als ich nach Indien ging und las, ‹Nein, du kannst nichts glauben, bis du es ­selber spürst› – was eigentlich einleuchtend ist –, dachte ich, ‹Wow! Fantastisch! Endlich habe ich jemanden gefunden, der etwas Vernünftiges sagt›. Also wollte ich mich mehr und mehr darin ver­tiefen. So hat es mich beeinflusst.»

Wieder zurück, bringt er alle ­Beatles dazu, einen Vortrag über transzendentale Meditation von Maharishi Mahesh Yogi zu be­suchen. Bald darauf reisen die ­Beatles ins indische Rishikesh, wo der Ganges aus dem Himalaja in die Ebene fliesst, um die transzendentale Meditation zu erlernen. «Das war so eine Art Einsiedler-Feriencamp direkt am Fuss des Himalaja.»

Im Sog der Beatles reist eine Reihe Prominenz und Halbprominenz nach Rishikesh: Donovan ist da und Mia Farrow. Deren Schwester Prudence inspiriert die Beatles zum Song «Dear Prudence». Die Beatles weilen einige Monate in ­Indien, meditieren regelmässig, erholen sich vom Stress der Beatlemania und passen ihr Outfit an. «Das ist mit das Beste an Indien – diese coolen Sachen zu tragen: weite Schlabberhemden und Pyjamahosen.»

Die Beatles sind einmal mehr die Trendsetter. Meditation, Spiritualität, Sehnsucht nach dem Osten, die weiten Schlabberhemden, Pyjamahosen, afghanische Lammfelljacken und Räucherkerzen werden zu den Ingredienzien der Hippiebewegung und des Summer of Love von 1967. Hermann Hesse, 1946 mit dem ­Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet und 1962 verstorben, wird zum Schriftsteller der Generation. Seine von christlicher und indischer Mystik geprägten Werke «Siddhar­ta», «Demian», «Der Steppenwolf» und «Das Glasperlenspiel» sind während der 1960er-Jahre Pflichtlektüre. Eine kalifornische Kultband firmiert sich in Steppenwolf um, und Santana nennen ihr ­zweites Album «Abraxas», einen Namen, den sie Hesses Roman ­«Demian» entnommen haben.

«Ed Sanders, die Beatnik-Legende, der Albert Einstein der Lost Generation», wie er auf dem Klappendeckel seines Buchs über den Sommer der Liebe angepriesen wird, beschreibt, wie sich die Beatniks in Hippies verwandeln. «Anfang 67 gab es ein grosses Be-in im Golden Gate Park in San Francisco, und der Ruf von dessen spiritueller Bedeutung breitete sich bis in die Lower East Side aus, wo ein Phänomen namens Flower-Power bereits seine Macht unter Beweis stellte.»

Immer mehr Leute, die sich in San Francisco «durch die Strassen und Parks bewegten, trugen Weihrauchduft und Pfauenfedern, kamen in prangenden Friedensgewändern daher, die lang waren und flatterten, trugen Spitzen auf nackter Haut, Stirnbänder, sternengeschmückte Zepter und Halsbänder oder zerschnippelte Einberufungsbefehle … In den Strassen rund um den Tompkins Park waren Turbane zu sehen, gebatikte Blusen, zehenfreie Zauberschlapfen und nahezu völlige Nacktheit, die nur vorsichtshalber mit ein paar Lederstreifen bedeckt war … Es war die Rede davon, dass nun das Ende der Geldwirtschaft innerhalb der gesamten historischen Entwicklung herbeigeführt werden sollte …»

Auf den Transparenten die ­Losung der Hippie-Generation: «Make love, not war!» Die Beatniks sind mittlerweile ideell und optisch zur Vergangenheit geworden und werden im Tompkins Park feierlich in Hippies verwandelt. Mit Scott McKenzie singt die Jugend der Welt voller Hingabe: «If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair.» Im Juni findet in Monterey im ­Süden von San Francisco das erste grosse Pop-Festival statt. Die Besetzung ist ausserordentlich: Janis ­Joplin, The Who, Otis Redding, Jimi Hendrix, der das erste Mal in den USA auftritt. Für Dennis Hopper war es «the purest, most beautiful moment of the whole ’60s trip».

Frankreich übt eine eigenartige Faszination auf die Jugend der Welt aus. Da mögen noch die Zwischenkriegsjahre eine Rolle spielen, als Paris zum Anziehungspunkt einer Elite amerikanischer Schriftsteller geworden war. Dem Paris dieser Tage hatte Hemingway mit seinen Romanen «Paris – Ein Fest fürs Leben» und «Fiesta» ein Denkmal geschrieben. Nun strahlen französische Filme, Filmstars, Romane und Chansons eine lässige Eleganz aus, die den westlichen Nachbarn eher fremd ist. Ein deutscher Zeitzeuge bekennt: «Angefangen hat meine rebellische Phase mit 13, 14, als die ersten Ideen von Frankreich rüberkamen, Miniröcke von Courrèges und Existenzialismus und was weiss ich. Lackmäntel und schwarze Pullover.» Man weiss zwar nicht, was «existenzialistisch» ist, «aber es ist etwas anderes».

Frankreich ist der Massstab für das Savoir-vivre. Die ultimative Frage steht unübersehbar auf den Plakaten: «Sind Sie der Gauloise-Typ?» Die filterlose Gauloise ist eine Art Lizenz für Lässigkeit. Das Kultfahrzeug ist die Ente, der 2CV, vorzugsweise mit dem Anti-Atom-Symbol bemalt. Der Chansonnier Georges Brassens wird zum Vorbild der Barden und Liedermacher in ­aller Welt. Die zerbrechliche Schönheit Françoise Hardy haucht mit zarter Stimme «Tous les garçons et les filles» in die Mikrofone. Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg sind die Gesichter der Nouvelle Vague, einer neuen Generation von Filmen. Godard, Truffaut, Malle und Lelouch prägen die vielleicht aufregendste Epoche der Film­geschichte entscheidend mit. Brigitte Bardot ist die Ikone der ­Generation. Zusammen mit Jeanne Moreau ist sie Hauptdarstellerin im Kultfilm «Viva Maria». Die Story über die mexikanische Revolution «war zum Symbol für das grosse ­Interesse und die Anteilnahme am Kampf der Länder der Dritten Welt geworden. Rudi (Dutschke) hat sich den Film mindestens fünfmal angeschaut ...» Serge Gainsbourg, Chansonnier, Filmschauspieler und Schriftsteller, ist der Gauloise-Typ schlechthin. Selbst die französischen Skirennfahrer entsprechen dem Klischee. Jean-Claude Killy sieht nicht nur unverschämt gut aus, sein Fahrstil ist von unnachahmlicher Eleganz.

Auch der führende europäische Intellektuelle ist ein Franzose, Jean-Paul Sartre, der Hauptvertreter der existenzialistischen Philo­sophie. «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden erklärt, es kommt darauf an, sie zu ­ver­ändern.» Sartre hat sich die ­berühmte 11. Feuerbachthese von Karl Marx zu Herzen genommen und sich zeitlebens in die politische Diskussion eingebracht. Albert ­Camus bezeichnet sich zwar nicht als Existenzialisten, insbesondere seine Frühwerke stehen aber dem Existenzialismus nahe. Der ame­rikanische Aktivist Tom Hayden ­bezieht sich auf diese Ausprägung des Existenzialismus.

In Berlin treffen sich die Existenzialisten am Steinplatz. Ein Freund führt den eben erst in ­Westberlin angekommenen Rudi Dutschke in die Szene ein. «Diese Welt war für Rudi so fremd wie ­Afrika.» Er liest Sartre, «ohne sich aber gänzlich mit ihm zu identi­fizieren». Sartre hat ihm aber den Virus der Lesesucht eingeimpft. Jeden Morgen presst er seine Bücher in eine riesige Tasche, die so schwer ist, dass er das Taschenschleppen als Kräftetraining betrachtet. Er entdeckt den marxistischen Philosophen Georg Lukács, die Frühschriften von Marx, Trotzki, Kropotkin, Bakunin, Reich, Marcuse, Adorno …

Diese Lesewut erfasst einen grossen Teil der jungen Menschen. Es herrscht eine intellektuelle Konkurrenz, die auf dem basiert, was man gelesen hat. Die Redensart «Man ist, was man liest» prägt die Generation. Ihr Statussymbol sind riesige improvisierte Gestelle mit Massen von Büchern und Schallplatten, in den Wohnzimmern auffällig präsentiert. Wer es erlebt hat, fühlt noch heute ­dieses fast erotisierende Gefühl, wenn man einen Band der regenbogenfarbigen Edition Suhrkamp in den Händen hält.

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