Still wars um Belletrist Pascal Mercier in den letzten Jahren. Nachdem er im August 2004 den Roman «Nachtzug nach Lissabon» veröffentlicht hatte, folgte 2007 nur noch die Novelle «Lea». Als Philosoph Peter Bieri war er in dieser Zeit aktiver.
Der «Nachtzug» zog derweil weiter von Erfolg zu Erfolg: Mehr als zwei Millionen verkaufte Bücher allein im deutschsprachigen Raum, Übersetzungen in 32 andere Sprachen und schliesslich – 2013 – die Verfilmung durch Oscar-Gewinner Bille August (71, «Pelle der Eroberer»).
Jeremy Irons (71) in der Hauptrolle des Berner Gymnasiallehrers Raimund Gregorius auf den Spuren des fiktiven Dichters Prado und weitere Stars wie Bruno Ganz (1941–2019), Christopher Lee (1922–2015) oder Charlotte Rampling (73) machten den Film zu einem Kassenschlager in Schweizer Kinos.
Nicht zuletzt dank des Lokalkolorits zu Beginn: Gregorius begegnet auf der Berner Kirchenfeldbrücke einer scheinbar suizidgefährdeten Portugiesin, gespielt von Sarah Spale (39), die aktuell in der Titelrolle in der TV-Serie «Wilder» und als Drogensüchtige im Kinospielfilm «Platzspitzbaby» durchstartet.
Wieder ein sprachbesessener Mann in einer Stadt am Meer
Und nun Merciers neuer Roman «Das Gewicht der Worte». Der Autor setzt darin auf sein Erfolgsrezept: Wieder spielt die Geschichte zu grossen Teilen in einer melancholischen Stadt am Meer – dieses Mal im italienischen Triest; wieder geht es um einen sprachbesessenen Mann – dieses Mal um den Übersetzer Simon Leyland; und wieder bewegt ihn ein Dichter – dieses Mal der fiktive Russe Smirnov.
«Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?» So lautet Prados philosophischer Kernsatz im «Nachtzug nach Lissabon», der Gregorius dazu bringt, Portugiesisch zu lernen, um sich in Lissabon auf die Suche nach dem Verfasser machen zu können.
In «Das Gewicht der Worte» lautet Smirnovs Grundgedanke: «Seit Tagen fällt Schnee in grossen, langsamen Flocken. Wenn ich vor die Tür trete, ist es zuerst, als hörte ich nur Stille.» Und hier zeigt sich der fundamentale Unterschied der beiden Romane: Wühlt Prados Satz auf und bringt alles in Fahrt, weist Smirnovs Gedanke Richtung Erstarrung, Stillstand und Ruhe. Stille ist denn auch ein zentraler und häufiger Begriff im neuen Buch.
Im ersten Kapitel fliegt Leyland von Triest nach London, wo er ein Haus seines verstorbenen Onkels geerbt hat. Dort angekommen, sieht er die Karte vom Mittelmeer, die immer noch an der Wand hängt. Als die beiden einmal davor standen, sagte Leyland zum Onkel, er würde gerne die Sprachen aller Länder können, die ans Mittelmeer grenzten. Und jetzt betrachtet er sie alleine. «Die Karte war so still», heisst es dann. «Das konnte man von einer Landkarte natürlich nicht sagen, und doch war es das treffende Wort.»
Ein paar Seiten später schaltet Leyland in seinem neuen Londoner Domizil den TV aus. «Das leise Rauschen der Heizung liess die Stille hervortreten», ist in der Folge zu lesen. «Es war eine Stille ohne Triest. Natürlich ergab der Satz keinen Sinn: eine Stille konnte weder mit noch ohne eine Stadt sein. Und doch trafen es die Worte genau: eine Stille ohne Triest.»
Nach dem Übersetzen von Texten das Setzen von Texten
Damit nicht genug: Die Romanfiguren sagen etwas «in die Stille hinein» oder führen ein «stilles, zurückgezogenes Leben». Gewiss: Schon Merciers frühere Romane «Perlmanns Schweigen» (1995), «Der Klavierstimmer» (1998) und «Nachtzug nach Lissabon» (2004) sind keine lauten Thriller. Aber so viel Stille war noch nie.
Gar zu verstummen meint der sprachgewandte Leyland – wegen eines ärztlichen Irrtums. «Es sieht so aus, als verlöre er die Sprache», sagt Pascal Mercier über seinen neuen Romanhelden. «Das Drama seines Lebens ist entsprechend mit Sprache verknüpft.» Darauf gibt Leyland seinem Leben eine ganz neue Wendung.
Mercier sagt dazu: «Darin liegt, wie sich dann zeigt, die Chance herauszufinden, wie es klingt, wenn er nach all dem Fremden nun die ganz eigene Sprache spricht, die Sprache seiner ganz eigenen Erfahrungen und Gedanken.» Wenn er vom Sprachvermittler zum Schriftsteller werde. Bei Leyland folgt also nach dem Übersetzen von Texten das Setzen von Texten.
Ein spätberufener Schriftsteller – das ist auch der Philosophie-Professor Peter Bieri. Er ist schon über 50 Jahre alt, als er unter dem Pseudonym Pascal Mercier seinen ersten Roman «Perlmanns Schweigen» veröffentlicht. Damals hatte er schon eine beachtliche akademische Karriere hinter sich.
Nach dem Studium in Heidelberg (D) bekommt er 1971 den Doktortitel mit einer Arbeit zur Philosophie der Zeit und 1981 die Hochschullehrerlaubnis mit einem Text über die Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein. Darin prägt er den Begriff «Bieri-Trilemma», eine in Akademikerkreisen gängige Formulierung zur Wechselwirkung von Leib und Seele.
Nach Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten in den USA und Deutschland wirkte Bieri von 1993 bis 2007 als Philosophie-Professor an der Freien Universität Berlin. Dann liess er sich vorzeitig pensionieren – er hatte die akademische Welt nach der Bologna-Reform satt. «Die Situation an der Universität macht mich wütend», schimpfte er in der FAZ vom 23. Mai 2007. «Da ist der Professor nur noch der Vollzugsbeamte der Module.»
Gregorius ein Denkmal für den Lehrer, Leyland ein Selbstporträt
Doch das Philosophieren lässt Bieri seither nicht sein: So wie die Liebe zur Weisheit in seine Belletristik einfliesst – das Schriftstellerpseudonym Pascal Mercier ist eine Reminiszenz an die französischen Philosophen Blaise Pascal (1623–1662) und Louis-Sébastien Mercier (1740–1814) –, so beeinflusst ihn die schöne Literatur in seiner Erkenntnissuche.
2001 veröffentlicht Bieri mit «Das Handwerk der Freiheit – über die Entdeckung des eigenen Willens» sein erstes philosophisches Werk, das sich an eine breite Leserschaft ausserhalb der Universität richtet. «Es ist klar bis zur Schönheit und spannend wie ein Roman», heisst es in einer Rezension zum Buch. 2013 folgt «Eine Art zu leben», eine umfassende Analyse der menschlichen Würde.
«Schreiben, wie ich es erlebe, entsteht aus Schlüsselerfahrungen», sagt Peter Bieri alias Pascal Mercier. «Die Einbildungskraft ist die Fähigkeit, solche Erfahrungen auszuspinnen und zu reichen Geschichten zu verdichten.» Dementsprechend ist ihm Simon Leyland so nahe wie keine andere literarische Figur, die Mercier bisher erschaffen hat.
Wenn der Latein-, Griechisch- und Hebräisch-Lehrer Gregorius am Gymnasium Kirchenfeld aus «Nachtzug nach Lissabon» ein Denkmal für Bieris Schulmeister sein mag – immerhin hat er dort diese Sprachen erlernt und danach ein Altphilologie-Studium in Bern begonnen –, dann ist Leyland ein Selbstporträt Merciers bei der Schriftsteller-Werdung.
«Die Phantasie, wenn man sie ihre Wege gehen lässt, schafft ihre eigene Art von Gegenwart: die Gegenwart von Poesie», sagt Mercier über sein Dichterdasein. In dieser poetischen Gegenwart komme all das zur Geltung, worum es einem wirklich gehe. «Man wünscht, es möchte immer so weitergehen, und ist unglücklich, dass die Geschichte aus ihrer Logik heraus ihr Ende erzwingt.» Und dann wird es wieder still.
Pascal Mercier, «Das Gewicht der Worte», Hanser-Verlag