Kennen Sie den Witz von der Blondine, die zum Coiffeur kommt? Sie hat einen Walkman dabei und will die Kopfhörer partout nicht ablegen. Prompt schneidet der Coiffeur nicht nur die Haare, sondern versehentlich auch die Kabel durch – und merkt erst Minuten später, dass die Kundin tot im Stuhl sitzt. Verwundert hört sich der Coiffeur die Aufnahme an, darauf sagt eine Stimme unentwegt: «Einatmen – ausatmen. Einatmen – ausatmen …»
Ein alter, bösartiger Witz. Einen, den man im Jahr 2022 nicht mehr erzählten sollte. Aber er verdeutlicht etwas, das wir im Alltag oft vergessen: unseren Atem. Ganz von selber füllen und leeren sich unsere Lungen, egal ob wir wach sind oder schlafen – oder grad beim Coiffeur sitzen. Oft nehmen wir nicht wahr, wie wir atmen. Ruhig und fliessend? Eher hastig und flach? Durch den Mund, bis in den Bauch oder bloss im Brustraum?
Atem steht für Leben und Lebendigkeit
Wie wertvoll unser Atem ist, rückt in der Pandemie vermehrt ins Bewusstsein, gerade weil wir mit dem Tragen von Masken eingeschränkt sind. Atemluft ist nicht nur zentral fürs Überleben, sondern steht für Leben und Lebendigkeit – wer sie bewusst einsetzt, kann damit sein Wohlbefinden beeinflussen. Ausserdem ist die Atmung die einzige autonome Körperfunktion, die wir im Gegensatz zu allen anderen vegetativen Vorgängen wie Herzschlag, Körpertemperatur oder Verdauung steuern können. Bis zu einem gewissen Grad zumindest – niemand kann die Luft anhalten, bis er stirbt.
Die meisten schaffen es knapp eine Minute. Anna von Boetticher (50) kann die Luft über sechs Minuten anhalten: ganz genau 6 Minuten und 12 Sekunden – ihr persönlicher Rekord an einer WM in der Disziplin Zeittauchen. Besonderen Spass macht ihr das allerdings nicht: «Man liegt still im Wasser und bewegt sich nicht. Da verstreichen die Sekunden sehr langsam.» Dennoch ist es ein gutes Training: Von Boetticher ist die erfolgreichste Apnoe-Taucherin Deutschlands, bis zu 125 Meter taucht sie in die Tiefe – ohne technische Hilfsmittel.
Das sei der Reiz des Freitauchens. «Ich dringe in eine andere Welt vor, eine Umgebung, in die ich als kleiner Mensch gar nicht hingehöre. Man setzt Körper und Geist dieser Unterwasserwelt aus, um sie zu erfahren.» Hinzu kommt die sportliche Herausforderung. «Ich muss mich dabei mit meinen körperlichen Fähigkeiten auseinandersetzen, an meine Grenzen gehen, das ist teils sehr anstrengend.» Kein Hindernis für von Boetticher, die trotz einer zu kleinen Lunge und einer Autoimmunkrankheit zu den Besten ihrer Liga gehört. Auch ihr Alter spiele keine Rolle: «Ich bin ja kein Joghurt mit Ablaufdatum.»
Die ganze Energie kehrt sich nach innen
Wenn sich von Boetticher am Seil in eine Tiefe von 40 Metern runterziehen lässt, bleiben die Augen geschlossen. Sie fällt wie ein Stein, die ganze Energie kehrt sich nach innen.
«Es wird still, der Herzschlag verlangsamt sich. Der Moment ist das Einzige, was zählt.»
Da vergesse sie sogar das Bedürfnis zu atmen.
Mit Training kann man die Phase bis zu diesem Impuls verlängern. Was die Taucherin fasziniert, ist die Fähigkeit des Menschen, sich anzupassen. «Auf dem Weg nach unten fängt der Körper an, Sauerstoff zu sparen, um mich zu schützen.» Der Stoffwechsel wird heruntergefahren, die Blutgefässe in den Extremitäten verengen sich, das Blut wird aus Armen und Beinen abgezogen und fliesst zur Körpermitte, um die lebenswichtigen Organe mit Sauerstoff zu versorgen. Im Gehirn erweitern sich die Gefässe, damit man wach bleibt. Diesen Vorgang nennt man den Tauchreflex. «Den haben auch Meeressäuger wie Wale, Robben und Delfine», sagt von Boetticher. «Bei uns Menschen ist der im Kindesalter stark ausgeprägt, das kann man sich wieder antrainieren.»
Einmal tief atmen und weg – um das auszuhalten, braucht es Erfahrung und das Wissen, dass da genug Sauerstoff im Blut ist, um alle wichtigen Organe zu versorgen. Bis zu 15 Minuten kann es ein Mensch laut Medizinern ohne Luftholen aushalten.
Yogi-Atmung für Freitaucher
Ihre Sportart sei nichts für Adrenalin-Junkies, sie habe auch keine Sehnsucht, da unten zu bleiben. «Ich freue mich jedes Mal, wieder rauf ans Sonnenlicht zu kommen und frische Luft einzuatmen.» Vielleicht fühlt sich das ein bisschen an wie der erste Atemzug. Vor der Geburt sind die Lungen noch eingefaltet, mit dem Schrei des Babys werden sie aufgebläht, das Leben beginnt, vom ersten bis zum letzten Atemzug.
Wenn Anna von Boetticher sich für den Tauchgang vorbereitet, verdoppelt sie die Länge des Ausatmens. «Das hängt allerdings von den Bedingungen ab. Im –3° C kalten Wasser in Grönland bleibt weniger Zeit, um in Ruhe zu atmen.» Eigentlich eine klassische Atemübung aus dem Yoga, Pranayama genannt: Atme doppelt so lange aus wie ein und halte viermal so lange die Luft an, wie du eingeatmet hast. In Zahlen gesprochen heisst das: 4 Sekunden einatmen, 16 Sekunden Luft anhalten und 8 Sekunden lang ausatmen.
Das lässt sich ausdehnen. «Eine Technik, die man in Indien schon vor 2000 Jahren geübt hat. Dabei hielt man den Atem bis zu 80 Sekunden an, um dann 40 Sekunden auszuatmen», erklärt Ralph Skuban (57). Damit sollte man aber keinesfalls beginnen. Skuban hat eine eigene Yoga-Akademie und ist Autor mehrerer Sachbücher über Atemtechniken.
Der Geist kommt zur Ruhe
Das Luftanhalten trainieren Yogis nicht, um die Unterwasserwelt zu entdecken, sondern um den Geist zur Ruhe kommen zu lassen. «Solange wir uns bewegen und atmen, sind auch die Gedanken aktiv», sagt Skuban. In der Stille, so heisst es in den alten Yoga-Schriften, könne man in die Natur unseres wahren Wesens schauen.
«Der Atem ist die Brücke ins Innere, das ist auch eine Chance», sagt Skuban. Als Kind litt er an schwerer Bronchitis. Auf seinem ersten Berufsweg leitete er während über zwei Jahrzehnten eine Einrichtung für Demenzkranke, dabei begleitete er Menschen in den Tod. «Was uns zeitlebens so selbstverständlich erscheint, wird am Ende zu einem Ringen. Das Sterben ist begleitet von intensiven Atemprozessen, mal ganz tief, dann mit Unterbrüchen, bis mit dem letzten Ausatmen auch das Leben erlischt.» Die Auseinandersetzung mit seinen Beobachtungen führte Skuban schliesslich zur Yoga-Philosophie und der Erforschung des Atems.
Was Freitaucher üben, das sei übrigens für jeden gesund. «Man trainiert damit die CO2-Toleranz», sagt Skuban. Kohlendioxid sei viel mehr als bloss ein Abfallgas und wird genau so benötigt wie Sauerstoff. Ohne würden wir sogar ganz aufhören zu atmen, weil Kohlendioxid den Atemantrieb reguliert. Skuban: «Zudem sorgt es als Signalmolekül dafür, dass die roten Blutkörperchen den an sie gebundenen Sauerstoff in unsere Zellen und das Gewebe entlassen.» Eine verstärkte Atmung bringt nicht mehr Sauerstoff ins Blut, denn dieses ist schon immer zu fast 100 Prozent damit gesättigt, aber man atmet mehr Kohlendioxid aus.
Tendenziell werde zu viel geatmet, sagt Skuban. «Jeder persönliche Zustand hat seinen Spiegel im Atem.» So bei Panik, Schmerz und natürlich dann, wenn wir krank sind. Insbesondere durch das Tempo und den Dauerstress in unserer modernen Gesellschaft neigen wir zu schneller Atmung: zu flach und im Brustbereich, so entsteht eine chronische Überatmung, die typisch für Beschwerden sei wie Bluthochdruck, Übersäuerung bis hin zu Schlaflosigkeit und Depressionen. Wenn es in der Yogastunde oder im Sport heisst: «Tief einatmen», ist laut Skuban Vorsicht geboten: «Viele blasen dann die Brust auf, aber es geht darum, übers Zwerchfell tief in den Bauch zu atmen.»
Sanft, geräuschlos und durch die Nase
Man müsse weder Freitaucher noch Yogi sein, um die Atmung wieder in einen natürlichen Rhythmus zu bringen. Skuban letztes Buch ist der Buteyko-Methode nach dem gleichnamigen russischen Arzt gewidmet. Sie eignet sich für jede Altersklasse – vom Asthmatiker bis zum Opernsänger –, um in eine gesündere Atmung zu kommen. Skuban: «Die ist sanft, geräuschlos, geht übers Zwerchfell in den Bauch, die Ausatmung ist entspannt. Und ganz wichtig: durch die Nase!»
Das gilt ganz besonders in Zeiten von Corona, denn so wird die Luft gefiltert, bevor sie in die Lungen gelangt. In den Nasennebenhöhlen wird Stickstoffmonoxid (NO) produziert, ein körpereigenes Gas. Für die Entschlüsselung der Funktionen, die es in unserem Organismus spielt, wurden die Forscher mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Skuban: «Es sterilisiert die Atemluft und erweitert die Blutgefässe in den Lungen. Mehrere wissenschaftliche Studien konnten zeigen, dass NO starke antivirale Wirkungen hat.» Das ist kein Schutz vor einer Infizierung, aber sinnvolle Prävention.
All diese Vorteile verliert man, wenn man durch den Mund atmet, das gilt auch während dem Tragen einer Schutzmaske. Skuban erklärt: «Unter der Maske atmen wir immer wieder etwas von unserer eigenen Ausatemluft ein. Diese enthält mehr Kohlendioxid als die normale Einatemluft.» Dadurch entsteht das Bedürfnis, nach Luft zu schnappen. Wer unter der Maske aber bewusst in einer ruhigen Nasenatmung bleibt, kann so seine CO2-Toleranz trainieren, was auch die Freitaucher üben. Die sogenannte Rückatmung wird auch therapeutisch genutzt, etwa bei grosser Aufregung oder Panikattacken, indem man in eine Papiertüte atmet.
Psychedelisches Atmen boomt
Wieder mal «richtig» durchatmen – ein Bedürfnis, das gerade in der Pandemie wächst. Zahlreiche Apps für Atemübungen können runtergeladen werden, zugleich boomen Breath-Workshops. Nicht nur der Spiritualität zugeneigte Stars wie Gwyneth Paltrow (49) oder Google-Mitarbeiter im Silicon Valley schwören darauf, auch hierzulande sind solche Kurse im Nu ausgebucht. Dabei wird allerdings genau das Gegenteil der ruhigen Atmung praktiziert. Durch kontrollierte Hyperventilation geht man begleitet von Musik in ein High, eine Art von Rauschzustand. Entwickelt wurde die holotrope Atmung in den 1960er-Jahren vom Psychiater Stanislav Grof (90), als Ersatz für LSD. Die bewusstseinserweiternde Droge setzte er therapeutisch ein, bevor sie verboten wurde.
Den psychedelischen Trip verdankt man physiologisch gesehen dem abgeatmeten Kohlendioxid. «Schon nach einer Minute Hechelatmung wird die Hirnrinde mit 50 Prozent weniger Sauerstoff versorgt», erklärt Experte Skuban. Dafür werden ältere Hirnregionen verstärkt durchblutet, vor allem das limbische System oder «Säugetiergehirn», das für unsere Emotionen zuständig ist. Ein Trip, der für viele eine bereichernde Erfahrung sein kann, aber auch mit Vorsicht zu geniessen ist. Dafür brauche es emotionale und mentale Stabilität. Voraussetzung ist für Skuban auch eine gesunde Grundatmung: «Sonst ist das so, als ob man mit einem humpelnden Bein auf einen Marathon geht.»