Brüssel 1929. In der Chefredaktion der belgischen Tageszeitung «Le Vingtième Siècle» hängt ein Porträt des italienischen Faschistenführers Benito Mussolini mit einer persönlichen Widmung. Es ist das Büro von Pater Norbert Wallez. Die Brüsseler Jugend verehrt diesen Bud Spencer des radikalen Katholizismus und frisst ihm aus der Hand.
Für seine neue Kinderbeilage «Le Petit Vingtième» verpflichtet Wallez einen 22-jährigen Zeichner, der bereits mit 17 dem belgischen Pfadfinder-Magazin «L’Effort» eine antisemitische Illustration verkaufte. Sie ist mit seinem Künstlernamen signiert: Hergé. Der Name setzt sich zusammen aus dem ersten Buchstaben des Nachnamens Remi und dem ersten Buchstaben des Vornamens Georges. Französisch ausgesprochen ergibt RG: Hergé.
Tim auf ideologischer Mission
Pater Wallez hat als Kind die äusserst populären Comics von Benjamin Rabier (1864–1939) verschlungen, darunter das 1898 erschienene Album «Tintin-Lutin». Der Comic-Held war ein kleiner Bengel mit blonder Haartolle, Golfhosen und knuddeligem Hund. Wallez will nun einen etwas älteren Tintin-Lutin, einen jungen Erwachsenen, den man als Reporter in die Welt hinausschicken kann, um die Jugend mit seiner Ideologie zu imprägnieren.
Es ist auch Wallez, der die ersten Reisepläne der neuen Comic-Figur festlegt. Mit dem ersten Band «Tim im Land der Sowjets» soll das Elend einer kommunistischen Diktatur gezeigt werden. Anschliessend soll Tintin in den Kongo, um die Kolonialpolitik des belgischen Königs Leopold II. zu rechtfertigen. Sie kostete 10 Millionen Kongolesen das Leben.
«Ich dachte wie er»
Hergé sagt später: «Ich war damals 22, die Bösen, das waren die Sowjets. Vergessen Sie nicht, dass ich damals einer katholischen Zeitung angehörte, die extrem rechts politisierte, katholisch bis in die Politik. Es war Abbé Norbert Wallez, der alles dirigierte, und selbstverständlich dachten wir alle wie er. Damals widersprach man nicht. Und ich mochte ihn gut, und das ist vor allem der Grund, wieso ich wie er dachte.»
In der Redaktion von «Le Vingtième Siècle» arbeiten auch die beiden um ein Jahr älteren Germaine Kieckens und Léon Degrelle. Kieckens ist die rechte Hand von Wallez und Leiterin der Frauenbeilage, Degrelle der unerschrockene Reporter in Golfhosen, ein charismatischer Dandy mit blonder Haartolle, ein Hergé-Freund aus Pfadfindertagen.
War Tims Vorbild ein Faschist?
In seiner Autobiografie «Tintin, mon copain» wird Degrelle später behaupten, er sei die Vorlage für Tintin gewesen. Hergé gesteht zwar im Dezember 1975, er habe «dank Léon Degrelle die Comics entdeckt». Aber er bestreitet vehement, dass Degrelle die Vorlage für Tintin gewesen sei. Das hat einen Grund: Léon Degrelle wurde später Führer der Rexisten, der Vereinigung belgischer Faschisten, und erlangte als «Hitler Belgiens» internationale Berühmtheit.
Am 10. Mai 1940 greifen Verbände der deutschen Wehrmacht das neutrale Belgien an. Alexander von Falkenhausen, der Chef der deutschen Militärverwaltung, übernimmt die Kontrolle über die Medien. Die Tageszeitung «Le Soir» wird unter ihrem Chefredaktor Raymond De Becker Propagandaorgan der deutschen Besatzungsmacht.
Antisemitische Zeichnungen
Für die meisten Belgier bedeuten die folgenden vier Jahre Angst, Schrecken und Mangel an vielem. Für Hergé beginnen hingegen die vier «Goldenen Jahre». Er wechselt freiwillig in die Redaktion von Raymond De Becker, auch er ein Freund aus Pfadfindertagen, und publiziert regelmässig die Fortsetzung seiner Tintin-Abenteuer. In der Redaktion hoffen alle auf die «Neue Ordnung». Während Raymond de Becker in der linken Zeitungsspalte nazifreundliche Kolumnen publiziert, erscheinen in der rechten Spalte Hergés antisemtische Zeichnungen. Jugendsünden des damals 34-jährigen Autors?
«Ich hatte keine Skrupel»
Wie lange dauert eine Jugend? Bedeutet Jugendsünde nicht, dass man bereut? Der Mulhouser Comic-Zeichner Jacques Martin arbeitete ab 1953 neunzehn Jahre lang mit Hergé an den Tintin-Alben und für das Comic-Magazin «Tintin». In den 70er-Jahren sagt er in einem Interview, dass Hergé ein Leben lang Antisemit geblieben sei. 30 Jahre später sagt Hergé in einem Interview: «Ich hatte keine Skrupel, für eine Zeitung wie ‹Le Soir› zu arbeiten, ich habe gearbeitet, das ist alles, so wie ein Minenarbeiter arbeitet oder ein Metzger.»
Unter deutscher Besatzung blüht Hergé auf, es entstehen die besten Alben. Viele Künstler verweigern die Zusammenarbeit – für Hergé eine einmalige Gelegenheit. Er beliefert nun gleich drei nazifreundliche Zeitungen aufs Mal und verdient richtig Geld. Seine Abende verbringt er mit seinen Arbeitskollegen in den Lokalen und Bars, die auch von den SS-Offizieren frequentiert werden.
Hergé will sich absetzen
In den späten Abendstunden des 3. Septembers 1944 fallen britische Armee-Einheiten in Brüssel ein, sie werden frenetisch gefeiert. Belgien erhält seine Freiheit zurück, Hergé verliert die seine. Er wird gleich viermal verhaftet, verhört, eine Nacht verbringt er im Gefängnis. Später wird er mit einem zweijährigen Berufsverbot belegt und verliert vorübergehend das Bürgerrecht und den Führerausweis, was den notorischen Raser besonders ärgert.
Hergé will sich nach Südamerika absetzen. Zahlreichen Nazis gelingt dank der vom Vatikan eingerichteten «Rattenlinie» die Flucht. Am 23. Januar 1948 bittet Hergé den argentinischen Konsul schriftlich um eine Audienz. Am 5. Februar schreibt er dem argentinischen Presse-Attaché einen Brief und erkundigt sich über die Erwerbsmöglichkeiten in Südamerika. Er sei ein humoristischer Zeichner für Kinder.
Als man Hergé später fragt, was die schwierigste Zeit seines Lebens war, nennt er nicht den Krieg, sondern die Zeit danach. Zeitlebens klagt er über die Intoleranz und Ungerechtigkeit, die ihm damals widerfahren sei.
Co-Autoren werden ausgeblendet
Es ist ausgerechnet der Widerstandskämpfer Raymond Leblanc, Chef des Verlags Le Lombard, der Hergé 1946 für das geplante Comic-Magazin «Tintin» anstellt. Vier Jahre später gründet Hergé die Studios Hergé und stellt mehrere Nazi-Kollaborateure ein, zeitweise hat er über 50 Angestellte. Zahlreich sind seine Co-Autoren, doch allen verweigert er die Nennung in den Alben. 1983 sagt er in einem Interview: «Wenn mir eine Idee gefällt, assimiliere ich sie vollständig, und ich vergesse augenblicklich und für immer, dass sie von einem anderen stammt.»
1959 schreibt Pol Vandromme, der schon einige Nazi-Kollaborateure mit Biografien reingewaschen hat, «Le Monde de Tintin». Die Kriegsjahre überfliegt er mit gerade mal vier Seiten und hievt stattdessen Hergé in den Olymp der Literatur. Er vergleicht die einzelnen Alben mit Werken von Hemingway, Hitchcock und Jules Verne. Vandromme legt den Grundstein für die Errichtung eines belgischen Nationaldenkmals, das Fundament für den Mythos Hergé, der mit dem Zeichner Georges Remi so viel gemeinsam hat wie eine Forelle mit einer Telefonzelle.
«Vielleicht immer noch Rassist»
In den Studios Hergé benimmt sich der Womanizer nun «wie ein Feldweibel», spricht immer öfter in der dritten Person von sich, trennt sich von seiner Ehefrau Germaine, geniesst mit einem jungen Fotomodell seinen Reichtum und verliert das Interesse an Tintin.
1983 stirbt Hergé an Leukämie. In einem der letzten grossen Interviews vor seinem Tod sagt er: «Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ohne Zweifel zögern, ihre Heirat mit einem Ausländer gutzuheissen, und zwar, um ihr zukünftige Probleme zu ersparen. Wenn ich so darüber nachdenke: vielleicht bin ich immer noch ein Rassist.»
Claude Cueni ist Schriftsteller und BLICK-Kolumnist. Für seinen soeben erschienenen Roman «Warten auf Hergé» hat er alle Biografien des Zeichners, Interviews und verfügbaren Dokumente gelesen.
Lesen Sie morgen im SonntagsBlick Magazin: Hergé und die Schweiz