Ich kann mich nicht erinnern, wann ich in den letzten 13 Jahren 24 schmerzfreie Stunden erlebt habe. Ich bin hauptberuflich krank und Dauerpatient im Zellersatzambulatorium der Hämatologie, in der Pneumologie, in der Neurologie, in der Urologie, in der Dermatologie, in der Kardiologie und im Augenspital.
Meine tägliche Medikamentenliste umfasst 14 Positionen. Einige Pillen lösen Muskelkrämpfe aus, tagsüber, in der Nacht, manchmal bricht dabei ein Stück Zahn ab. Die Kieferkrämpfe beim Essen und Zähneputzen nehme meine Frau Dina und ich mit Humor. Sieht zu komisch aus. Das ist mein Leben, ein anderes gibt es nicht.
Selbstmitleid ist Zeitverschwendung und verstärkt lediglich die Schmerzen. Ich kann meine Krankheiten nicht heilen, aber ich kann meine Einstellung dazu ändern. Ich hatte stets eine sportliche Einstellung zum Leben und akzeptiere, dass ich in der Nachspielzeit lebe. Ich fokussiere auf das, was mir Freude macht: Familie, Arbeit, Natur.
Bei Schmerzattacken singe ich oft aus Trotz die Hits der 1970er-Jahre. Singen ist gut für die Psyche, aber auch hilfreich für meine Lunge, die nach der leukämiebedingten Knochenmarktransplantation bis auf 37 Prozent abgestossen wurde. Man sagte mir damals, das sei irreversibel. Nichts hat mich in meinem Leben mehr motiviert, als wenn man mir sagte, etwas sei unmöglich. Nach jahrelangem Training zu Hause und optimaler Betreuung durch das Basler Unispital, erreichte ich im April erstmals wieder 50 Prozent.
Gemäss Statistik müsste ich längst tot sein. Mein Arzt sagt, das sei ungewöhnlich und wahrscheinlich Dinas Fürsorge geschuldet. Für ein Martyrium unter dem Damoklesschwert braucht es die richtige Partnerin. Dina hat nach dem Krebstod meiner ersten Frau die philippinische Sonne in mein Leben gebracht. Dina leidet mit, bemitleidet mich aber nicht. Sie spürt, wenn ich Schmerzen habe. Wir sprechen nicht darüber. Sie zwinkert mir zu und sagt: Spartacus. Die Larmoyanz in unseren Breitengraden ist ihr fremd. Auf den Philippinen fühlen sich die Leute nicht permanent traurig, deprimiert, überfordert und wegen jeder Lapalie unwohl.
Oft reissen mich Krämpfe ab zwei Uhr morgens aus dem Schlaf. Dina hilft mir auf die Beine, ich hake ihr unter, wir spazieren durch die Wohnung, wir sind wie Bonnie & Clyde, aber gewaltlos. Wenn ich nachts online bin, melden sich manchmal Leserinnen: Können Sie auch nicht schlafen? Haben Sie auch solche Schmerzen? Viele Menschen tragen einen wesentlich schwereren Rucksack.
Ich habe mich ein Leben lang mit dem Alltag in anderen Epochen beschäftigt. Leid und Schmerz gehören zum Leben. Man kann Schmerzen medikamentös unterdrücken, aber bei der Dosis, die ich bräuchte, würde ich vor dem PC einschlafen. Ernährung und Bewegung können hilfreich sein, aber den Schmerzen kann man nicht davonlaufen.
Mittlerweile hat die Polyneuropathie auch die Nerven in Füssen und Händen geschädigt, eine Spätfolge der erfolgreichen Chemos und Bestrahlungen, der Preis fürs Überleben. Der Mensch ist stärker als er glaubt, aber jeder hat seine rote Linie. Dass Sterbehilfe jederzeit möglich ist, hilft, Schmerzen zu ertragen. Weil man es jederzeit beenden könnte. Da das Leben aber trotzdem grossartig ist, verschiebt man die rote Linie immer wieder. Sei es auch nur für Dinas Pancit, ein philippinisches Nudelgericht.
Claude Cueni ist Schriftsteller und Blick-Kolumnist. Er lebt in Basel. Im Verlag «Nagel & Kimche» erschien «Hotel California», ein Lebensratgeber für seine Enkelin.