Der Zweite Weltkrieg ist gerade mal 20 Jahre vorbei, das Wirtschaftswunder blüht allenthalben und überwuchert kaum vernarbte Wunden. Auch in der verschonten Schweiz erfreut man sich der «gschaffigen» Deutschen, die all ihre Gräueltaten vergessen machen.
Zu diesem Zeitpunkt, genau am 12. Mai 1965, veröffentlicht die DDR-Wochenzeitschrift «Die Weltbühne» einen Artikel mit dem Titel «Hitlers Krieg und die Schweiz». Autor Stefan Miller schreibt darin die Geschichte neu: «Nichts ist verkehrter als die verbreitete Vorstellung, die neutrale Schweiz habe die tragischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges sozusagen als unbeteiligter Zuschauer vom sicheren Logenplatz aus verfolgt.»
«Faschismusfreundliche Haltung von Schweizer Behörden»
Miller bringt damals schon auf den Punkt, was Historikerkommissionen Jahrzehnte später aufarbeiten: Es ist nicht die wehrhafte Schweizer Armee, die Basel, Bern und Zürich vor einer Einnahme durch die Nazitruppen bewahrt, es waren wirtschaftliche Verflechtungen und ein strategisches Desinteresse von Hitler.
Und dann war noch etwas entscheidend: «Es war ein Glück für die Schweiz, dass während des Krieges an der Spitze ihrer Armee kein Exponent jener Offizierskreise stand, die sich seit jeher dem Geist (oder Ungeist) des preussischen Militarismus verbunden fühlten», schreibt Miller weiter und lobt den Waadtländer General Henri Guisan (1874–1960) als eine «unerschrockene Persönlichkeit». Wie in der DDR üblich verabscheut Miller alles Preussische, doch wie kein Zweiter im Arbeiterstaat kennt er die Schweiz.
Stefan Miller ist Schweizer: Der Name ist ein Pseudonym von Harry Gmür (1908–1979), der 1944 die Schweizer Partei der Arbeit (PdA) mitbegründete und von 1945 bis 1946 die kommunistische Zeitung «Vorwärts» als Chefredaktor leitete. Nun erscheinen 30 seiner Artikel – vornehmlich solche, die er für die ostdeutsche «Weltbühne» verfasste – unter dem Titel «Reportagen von links» im Europa-Verlag.
Herausgeber dieser historischen Dokumente ist Mario Gmür (75), schweizweit bekannter Psychiater und Gerichtsgutachter sowie Sohn von Harry Gmür. «Mein Vater hat schon in den 1930er-Jahren die naziaffine und faschismusfreundliche Haltung von Schweizer Behörden kritisiert», sagt Mario Gmür, «als ich in den letzten Jahren die kritische Aufarbeitung dieser unrühmlichen Vergangenheit durch Historiker zur Kenntnis nahm, fand ich es sinnvoll, die echtzeitlichen Artikel zu publizieren.»
Schon die Romane ernteten viel Lob
Einige Hundert Reportagen und Essays erschienen zu Lebzeiten von Harry Gmür in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Sein Sohn präsentiert uns jetzt antifaschistische Publikationen der späten 30er-Jahre, Artikel über die Franco-Diktatur in Spanien und Afrika-Reportagen aus der Zeit der Entkolonialisierung in den 60er-Jahren. «Vier Jahrzehnte Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus» heisst der Sammelband denn auch im Untertitel.
«Harry Gmür war ein brillanter Schriftsteller, ein kluger politischer Analytiker und seit den frühen 1940er-Jahren ein prinzipientreuer Kommunist», schreibt der Soziologe und Genfer alt Nationalrat Jean Ziegler (86) im Vorwort des Buchs. «Die ‹Reportagen von links› sind Zeitdokumente von höchster Wichtigkeit und Aktualität.»
Grosses Lob ernteten schon die beiden posthum veröffentlichten Harry-Gmür-Romane: Über den Niederdorf-Roman «Am Stammtisch der Rebellen» (2015) urteilte die bürgerliche «NZZ», dass die Lektüre «ein äusserst vergnügliches Unterfangen» sei. Und den leicht kitschig anmutenden Entwicklungsroman «Liebe und Tod in Leipzig» (2016), den Harry Gmür als 21-jähriger Student in Leipzig geschrieben hatte, stiess gemäss seinem Sohn auf «das äusserst positive Echo von kompetenten Literaten». «Darüber war ich erleichtert», sagt Mario Gmür, «nachdem ich mich über Zweifel meiner Verwandten hinweggesetzt und die Publikation durchgedrückt hatte.»
Die Gmürs sind eine altehrwürdige Familie, deren Murger Zweig an den Walensee des 16. Jahrhunderts zurückreicht. Harry Gmür kommt allerdings in der Bundeshauptstadt zur Welt, weil sein St. Galler Vater Max Gmür (1871–1923) ein renommierter Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Bern ist. Die Mutter Clara Gmür-Fischer stammt aus einer begüterten Händler-Dynastie. Harry wächst mit seinen beiden jüngeren Geschwistern in einem liberalen Haushalt samt Dienstboten im noblen Altenberg-Quartier auf.
Angst vor Ächtung und Berufsverbot
Harry ist 15 Jahre alt, als sein Vater bei einem Badeunfall in der Toskana ums Leben kommt. Als ältester Sohn lernt er früh, selbständig zu sein: Harry Gmür heiratet 1930 Genrieta «Gena» Esther und zieht mit ihr nach Leipzig, wo er sein Geschichts- und Germanistik-Studium mit einer Doktorarbeit über den Kreuzfahrer Thomas von Aquino abschliesst. 1931 kommt Tochter Miriam zur Welt, doch wegen der jüdischen Herkunft von Gena Gmür kehrt die Familie nach der Machtergreifung der Nazis in die Schweiz zurück.
In Zürich kommen 1934 Sohn Roland, 1940 Tochter Anita und 1945 die Zwillinge Ruth und Mario auf die Welt. «Mein Vater hat nie politisch Einfluss genommen auf uns fünf Kinder», sagt Mario Gmür. «Es herrschte bei uns Toleranz gegenüber Andersdenkenden in Verwandtschaft und Bekanntenkreis.» Und innerhalb der Familie habe man stets einen ironischen Ton gepflegt.
Keinen Spass erleben die Gmürs ausserhalb der Familie: Weil Harry Gmür von 1944 bis 1950 für die PdA im Zürcher Gemeinderat sitzt, ist er im Fokus der politischen Bundespolizei. Gena Gmür weist ihren Mann ausdrücklich an, keine politischen und insbesondere wirtschaftspolitischen Artikel für die ostdeutsche «Weltbühne» zu verfassen, um nicht in den Verdacht der Spionage zu geraten.
«Man befürchtete Diskriminierung wie soziale Ächtung und Berufsverbot», sagt Mario Gmür. «Deshalb habe ich auf Anraten meiner Mutter Medizin studiert, weil eine freie Tätigkeit als Arzt möglich sein würde.» Wie sehr der Familie die Angst im Nacken sass, zeigt die Anekdote einer Mittelmeerkreuzfahrt, die Mario Gmür mit den Eltern und der Zwillingsschwester Ruth Anfang der 60er-Jahre unternahm. «Ich erinnere mich, dass wir bei jeder Grenzkontrolle eine Verhaftung befürchteten», sagt er.
Herr Salatini und der besetzte Tisch
«‹Kreuzfahrer› heute» heisst der Titel des Artikels über diese Schiffsreise, der ironisch auf den mittelalterlichen Kreuzfahrer Thomas von Aquino aus Harry Gmürs Doktorarbeit verweist. Den amüsanten Text veröffentlichte Gmür unter dem Pseudonym Gaston Renard im Juli 1961 in der «Weltbühne», und er ist nun im Sammelband «Reportagen von links» zu finden. Anders als andere Artikel, in denen er verbissen den antiquiert anmutenden klassenkämpferischen Ton anstimmt, kommentiert er hier satirisch feine Beobachtungen mit scharfer Zunge.
«Herr Salatini aus Rom oder Neapel betritt federnden Schrittes den Saal, gefolgt von seiner vollschlanken Gattin, die einen riesigen, weithin funkelnden Diamantring an der linken Hand trägt», beschreibt Gmür ein Dinner auf dem Schiff. «Als Salatini zwei fremde Damen, ruhige Französinnen gesetzten Alters, an ‹seinem› Tisch erblickt, ergreift ihn der Zorn: ‹Was ist denn das? Das ist unser Tisch!›» Es folgt ein Tumult – das hat literarische Qualität der grossen Gesellschaftsromane aus dem frühen 20. Jahrhundert.
«Ich habe nicht gewusst und gemerkt, dass mein Vater über die Kreuzfahrt etwas schreibt», sagt Mario Gmür. «Ich nehme an, dass er abends spät an der Bar seine Notizen gemacht hat.» Er habe fast nie über seine Arbeit gesprochen. «Nur ab und zu erzählte er konzis und pointensicher ein Erlebnis oder eine Beobachtung, die ihn belustigt hatte.» Als Gymnasiast fragte Mario Gmür einmal seinen Vater, wie man einen Artikel schreibe. «Man fängt einfach vorne an und hört hinten auf», war seine lapidare Antwort.
Harry Gmür, «Reportagen von links – vier Jahrzehnte Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus», Europa-Verlag