Ich stehe auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich am Grab von Johanna Spyri und halte ein leeres Blatt in der Hand. Einen Spruch möchte ich ihr hierlassen, ein Zitat der Hoffnung, eine Zeile des Trostes. Ein Blatt für Johanna Spyri, Schöpferin von unserem Heiland aus dem Heimatland, dem Nationalmythos Heidi; Spyri, deren Geschichten mich oft genug zu trösten vermochten, als ich ein Kind war. Ihre feine Beobachtungsgabe für kindliche Nöte beeindruckte mich so nachhaltig, dass ich Jahre später meine Studienarbeit darüber verfasste.
«Herr, wess soll ich mich trösten?», steht auf ihrem Grabstein «Ich hoffe auf Dich.» War Gott wirklich ihr einziger Trost? Was gibt es zu schreiben über eine Frau, die verkannt und verehrt, vergessen und wiederentdeckt wurde?
2021 feiert sie gleich mehrere Jubiläen. Es sind hundertzwanzig Jahre vergangen, seit sie gestorben ist. Vor hundertfünfzig Jahren wurde ihre erste Geschichte gedruckt, mit dem Titel «Ein Blatt auf Vrony’s Grab».
Spyri schreibt über Gewalt an Frauen, aber nicht im Sinne der Anklage
Vrony, Tochter eines ärmlichen Küsters und Heimarbeiters, verliebt sich in den «falschen» Mann, einen umherziehenden Zimmermann mit «wilden, schwarzen Augen». Sie heiratet ihn, doch statt der versprochenen Reise über die Alpen bekommt sie von ihm nur Schläge. Geschunden und misshandelt sucht sie den Pastor auf, der ihr zu Duldsamkeit, zu Glauben und Gottvertrauen rät und sie zu ihrem trunksüchtigen, gewalttätigen Mann zurückschickt. Dieser prügelt die Frau zu Tode.
Wer war diese Autorin, die in ihrem ersten erfolgreichen Text über Gewalt an Frauen schrieb, ohne diesen Tatbestand explizit zu verurteilen? Ungeschönt und berührend zwar, aber nicht im Sinne einer Anklage gegen den Täter.
Sie sollte später mehrmals erwähnen, dass man ihre Biografie doch ihrem schriftstellerischen Werk entnehmen möge, dessen Grossteil aus der Kinderbuchreihe «Geschichten für Kinder und solche, welche die Kinder lieb haben» besteht.
Als ich Spyri entdeckte, war ich selbst noch ein Kind. Der Sammelband «Heidi und Gritli» war das dickste Buch im Regal auf dem heimischen Bauernhof. Da ich möglichst viel Zeit mit meinen liebgewonnenen Figuren verbringen wollte, las ich gerne dicke Bücher. Immer wieder, bis ich ganze Stellen auswendig rezitieren konnte. Was interessierte mich als Bauerntochter die religiös erzieherische Motivik? Es reichte mir, die plastisch beschriebenen Figuren innig zu lieben.
Heidi, das ungezähmtes Kind der Alpen
Heidi, das wilde, ungezähmte Kind der Alpen, barfuss, mit dunklem, krausem Haar, Heidi war mir nahe. Es trug mich aus dem engen heimatlichen Tal hinaus, nahm mich mit, zuerst auf die Alp, dann auf seine Lehr- und Wanderjahre in die weite Welt, in die Grossstadt Frankfurt. Dort erkrankte es an Heimweh, fand Trost im Glauben und lernte lesen, um die biblischen Geschichten zu verstehen. Ich weinte heisse Kindertränen, als Heidi zur Alp und zum Grossvater heimkehren durfte und diesen ebenfalls zum Glauben und zur Wiedereingliederung in die dörfliche Gemeinschaft bekehrte.
Der Glaube wurde Johanna Louise in die Wiege gelegt. 1827, als viertes von sechs Kindern der protestantischen Arztfamilie Heusser geboren, wurde sie pietistisch erzogen. Mutter Meta Heusser-Schweizer war Pfarrerstochter, Mystikerin, Dichterin und verfasste religiöse Lieder. Diese waren inspiriert vom Pietismus, einer in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandenen protestantischen Strömung, die den heutigen Freikirchen ähnelt. Bibeltreue, Rechtschaffenheit, eine individuelle Beziehung zu Gott und ein fatalistischer Glaube, dass alles gut komme, mischten sich mit Mystik, Transzendenz und einer sentimentalen Todessehnsucht. Eng verknüpft mit dem Glauben waren die Wohltätigkeit gegenüber Armen und Gebrechlichen, praktische Nächstenliebe, Krankenpflege, Armenspeisung sowie das Vorlesen, gemeinsame Singen und Beten.
Patti Basler (45) wächst im Fricktal AG auf. Nach der Matur studiert sie Pädagogik an der Universität Zürich und schreibt eine Liz-Arbeit über Johanna Spyri. Bis 2013 ist sie Sekundarlehrerin und seither mehrfach ausgezeichnete Kabarettistin. Ihr aktuelles Programm heisst «Nachsitzen».
Patti Basler (45) wächst im Fricktal AG auf. Nach der Matur studiert sie Pädagogik an der Universität Zürich und schreibt eine Liz-Arbeit über Johanna Spyri. Bis 2013 ist sie Sekundarlehrerin und seither mehrfach ausgezeichnete Kabarettistin. Ihr aktuelles Programm heisst «Nachsitzen».
Traditionalistische und pietistische Ideale
Johanna und ihre Geschwister besuchten die Dorfschule und wurden auch vom Pfarrer unterrichtet. In einigen ihrer Erzählungen schildert sie, wie damals trotz Schulobligatorium die Anwesenheitspflicht nicht gar zu ernst genommen wurde, wenn es zu Hause wichtigere Arbeiten gab. Auch erfährt man, wie «störrischen» Kindern mit Prügel und Karzer der Unterrichtsstoff eingebläut wurde und wie die Lehrer oft selbst nicht über die beste Bildung verfügten.
Dass Spyri solche Methoden nicht für zielführend hielt, kommt öfter zum Ausdruck. Sie plädiert für Liebe, Verständnis, für individuelle Lernziele und Lernmethoden, was revolutionär und weit vorausblickend anmutet. Sie spricht sich aber auch dafür aus, Kinder so zu unterrichten, dass sie für das ihnen zugedachte Leben gerüstet sind. Mit Kopf, Herz und Hand, mit Bibel und Heimarbeit für die Armen, wie bereits Pestalozzi propagiert hatte. Kinder aus oberen sozialen Schichten oder Hochbegabte sollen noch von Literatur-, Musik- und Zeichnungs-Unterricht profitieren, ein Studium bleibt den Buben vorbehalten. Das wirkt pragmatisch, aber nicht sehr emanzipiert, an einer gesellschaftlichen Umwälzung schien Spyri wenig interessiert.
In Johanna Heussers eigenem Leben obsiegten die traditionalistischen, pietistischen und grossdeutsch geprägten Ideale. Sie heiratete 1852 den Juristen Johann Bernhard Spyri, der später Stadtschreiber von Zürich wurde.
Das bürgerliche Korsett engte Spyri ein
Sie verkehrte in den Kreisen des gehobenen Bürgertums der Stadt Zürich. Auch der Schriftsteller Gottfried Keller gehörte zu ihren Bekannten. Als Ehefrau und ab 1855 Mutter ihres Sohnes Bernhard hatte sie vielerlei häusliche Verpflichtungen. Die Ehe schien von Respekt, aber Distanz geprägt gewesen zu sein, die Beziehung zu ihrem Sohn von mütterlicher Liebe, aber auch einem schlechten Gewissen, da sie an postpartaler Depression gelitten und nicht jene Freude empfunden hatte, die junge Mütter nach der Geburt hätten empfinden müssen.
Als gebürtigem Dorfkind waren ihr die Sitten und Gebräuche in grossbürgerlichen Haushalten zeitlebens ein Gräuel. Diese Befremdung ist mit viel Humor und ironisierender Distanz im ersten «Heidi»-Band geschildert. Die Frankfurter Gouvernante, Fräulein Rottenmeier, ist entsetzt über Heidis Unkenntnis jeglicher Anstandsregeln, und Heidi entlarvt mit ihren naiven Fragen die Oberflächlichkeit der bürgerlichen Tisch- und Sprachmanieren.
Das Schreiben ist eine Möglichkeit, zumindest im Kopf den engen Bürgerwänden zu entfliehen. Nach mehreren Umzügen beginnt Johanna, sich ernsthaft der Schriftstellerei zu widmen. Auf ihren Erstling im Jahr 1871 folgen in den nächsten Jahren einige weitere Erzählungen, in denen prekäre Verhältnisse, Armut, Verdingarbeit und Krankheit thematisiert werden. Sie schreibt Geschichten «für Kinder und für solche, welche die Kinder lieb haben». Ein Genre, dem sie mit wenigen Ausnahmen treu bleiben sollte.
Johanna Spyris einziges Kind stirbt früh
Ihr eigenes Kind, Bernhard Spyri, war musikalisch hochbegabt, aber von fragiler Gesundheit. Zwei Eigenschaften, die sich bei vielen von Spyris kindlichen Protagonistinnen wiederfinden. Sie kennt nun die Kranken auch aus der Sicht einer betroffenen Mutter. Mit ihrem Sohn reist sie zu verschiedenen Kuraufenthalten, wie die gelähmte Klara im «Heidi» und die schwindsüchtige Nora in der «Gritli»-Erzählung.
Trotz aller Anstrengungen erholt Bernhard sich nicht und stirbt mit nur neunundzwanzig Jahren im Jahr 1884. Noch im selben Jahr folgt ihm Spyris Gatte. In welchen Zeilen fand Spyri damals Trost? Hinterliess sie ihrem Sohn und ihrem Gatten auch ein Blatt auf dem Grab?
Mit leerem Blatt habe ich nach Antworten gesucht, nach Erziehungsgrundsätzen dieser Autorin, die ihre erste Protagonistin Vrony so grausam zu Tode prügeln liess. Nicht in der Biografie, sondern in ihren Dutzend Kindergeschichten: Warum sind sie trotz allem und immer noch lesenswert?
Es ist das lebendige Mitgefühl, dieser psychoanalytisch anmutende scharfe Blick in die Black Box der Kinderseele, die kraftvolle und empathische Schilderung der kindlichen Ängste und Nöte, welche mir die Schriftstellerin ans Herz wachsen liessen.
Eine gute Erziehung und ein glückliches Leben brauchen einen Boden, ein Fenster und einen Weg.
Als Johanna Spyri an Krebs erkrankte, wurde sie von der ersten Ärztin der Schweiz, Marie Heim-Vögtlin, gepflegt.
Johanna Spyri starb 1901. Es sollte nach ihrem Tod noch siebzig Jahre dauern, bis die Frauen in der Schweiz das Stimmrecht erhielten. Und weitere zwanzig Jahre, bis Gewalt in der Ehe strafbar wurde.
Fast jede Woche wird in der Schweiz eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht.
Ich schreibe auf mein leeres Blatt: «Danke, Johanna Spyri, für den Boden und das Fenster – aber der Weg ist noch weit.»
«Projekt Schweiz» – das klingt nach einem grossen Brocken. Und tatsächlich wälzt Unionsverlag-Leiter Lucien Leitess schon seit Jahrzehnten dieses Projekt, für das nun 44 Autorinnen und Autoren mit Leidenschaft vergessene Schweizer Persönlichkeiten porträtieren oder bekannte in ein neues Licht rücken. Das Buch kommt am 13. September in den Handel.
Stefan Howald (Hg.), «Projekt Schweiz – vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft», Unionsverlag
«Projekt Schweiz» – das klingt nach einem grossen Brocken. Und tatsächlich wälzt Unionsverlag-Leiter Lucien Leitess schon seit Jahrzehnten dieses Projekt, für das nun 44 Autorinnen und Autoren mit Leidenschaft vergessene Schweizer Persönlichkeiten porträtieren oder bekannte in ein neues Licht rücken. Das Buch kommt am 13. September in den Handel.
Stefan Howald (Hg.), «Projekt Schweiz – vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft», Unionsverlag