Foto: Nathalie Taiana

Bonjour les Welsches
Le Röstigraben n’existe pas

Wegen Covid-19 entdecken Welsche, die sich vorher ferienmässig nach Frankreich orientierten, plötzlich die Deutschschweiz. Und sie finden sie super.
Publiziert: 01.08.2020 um 13:44 Uhr
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Patrice (58) und Luciana (43) Suissa und Candy (43) und Mathias (48) Hirsch leben in Genf. In Zeiten von Covid-19 entdecken sie die Deutschschweizer Bergwelt.
Foto: Nathalie Taiana
Silvia Tschui

Der berühmt-berüchtigte «Röschtigrabe», oder, vom Welschland aus gesehen, als barrière de rösti oder rideau de rösti (Röschtivorhang) bezeichnet, wird viel zitiert, nicht nur wenn es um Abstimmungsresultate geht. Während wir die Welschen gern als weissweintrinkende Vielschwätzer sehen, die auch gerne mal bei einem Geschäft mauscheln – Süden eben, um die politische Unkorrektheit auf die Spitze zu treiben –, nehmen sie uns, denken wir zumindest, eher als verstaubt, langweilig und überkorrekt wahr.

Vergesst Inder und Asiaten, die Welschen kommen!

Kein Wunder, sieht man an Deutschschweizer Touristenorten im Normalfall Inder mit Bollywood-Film-Sehnsucht, welche sich endlich einmal die Kulissen ihrer Lieblingsfilme real ansehen wollen, oder Asiaten, die von Heidi-Filmen mit der Alpenwelt und hübschen Städten wie Interlaken geprägt wurden. Kein Wunder, blieben Welsche bis anhin gefühlt aus. Und reisten lieber nach Frankreich an den Strand. Bouillabaisse statt Alpenchäs, Moules et frites statt Capuns, Confit de canard statt Raclette. Und Weisswein statt Rivella.

Nur ist dieses Jahr alles anders: Einreisebeschränkungen oder auch nur schon die eigene Vernunft, die einem zuflüstert, dass es vielleicht angesichts einer globalen Pandemie nicht sehr schlau ist, sich an einen überfüllten Strand zu legen und sich an Tourismus-Hotspots beim Anstehen für ein Glace gegenseitig auf den Füssen zu stehen. Und plötzlich hört man in den Schweizer Bergen ungewohnte Klänge: französische Kinderstimmen statt gemütlichen Berner, zackigen Zürcher und weichen Ostschweizer Dialekt.

Etwa das Lachen von Chloé (9), Mila (4), Benjamin (9) und Olivia (8). Die vier Kinder zweier befreundeter Genfer Familien machen Ferien in der Deutschschweiz – in Klosters GR, um genau zu sein. Sie haben eine Riesengaudi auf dem grossen Alp-Spielplatz auf der Alp Madrisa oberhalb des Ortes.

Die Deutschschweiz ist für einige gewöhnungsbedürftig …

Die Ferien finden entgegen dem anfänglich entschiedenen Widerstand von Mami Candy Hirsch (43) in den Deutschschweizer Bergen statt. Die Genferin arbeitet seit rund 20 Jahren als Kindergärtnerin. «Pour moi, les Sommerferien, ist der Strand», sagt sie. Und sie habe sich diese Ferien jeweils wirklich verdient.« Mit der ganzen Technologie, mit der Kinder heute aufwachsen, ist unser Job viel schwieriger geworden. Kinder kennen kein Nein mehr, und ihre Aufmerksamkeitsspanne ist viel kürzer als früher.» Sie hat recht – dies aber nur als Nebenbemerkung. Denn: In einem Interview mit dem SonntagsBlick Magazin sagte der damalige Präsident des Lehrerverbandes Schweiz, Beat Zemp, Studien würden belegen, dass der Stresslevel von Kindergärtnern heutzutage mit dem von Topmanagern vergleichbar sei.

Candy Hirsch hätte sich also ihre Strandferien redlich verdient – und sich auch bitterlich bei ihren Freundinnen darüber beklagt, in die Berge zu müssen. Auch schon letztes Jahr: Da habe ihr Mann Mathias sie – nun ja – fast schon gezwungen, Ferien in Flims zu machen. «Ich habe all meinen Freundinnen zu Hause geschrieben, was ich in diesen öden Bergen soll – bis wir den Caumasee entdeckten.» Ihre Freundinnen meinten daraufhin, sie spinne wohl – das sei ja wohl das Paradies. Seither ist Candy Hirsch mit den Bergen versöhnt, auch wenn sie sich pro forma auch dieses Jahr etwas gewehrt hat. «Paar-Dynamik halt», sagt sie und lacht, «aber jetzt finde ich es super.» Kein Wunder: An wunderschönen Bergseen mangelt es ja auch in der Umgebung von Klosters nicht. Und Mathias Hirsch, muss man vielleicht erwähnen, wusste, dass sie es lieben würde: Der Ökonom, der aktuell in einer Covid-19-Taskforce des Kantons Genf arbeitet, ist in der Deutschschweiz aufgewachsen und seit 25 Jahren Wahl-Welscher. Ohne seine Begeisterung und «Lobbyarbeit» wären die zwei Familien wohl nicht in der Deutschschweiz in den Ferien.

… nachher lieben sie uns!

Familienfreund Patrice Suissa (58) und seine Frau Luciana (43) hätten sich jedenfalls vorher kaum in den Deutschschweizer Bergen sehen lassen. Er ist ein Genfer Techno-Szene-Urgestein und hat von 1997 bis 2004 die Lake Parade organisiert, das Genfer Äquivalent zur Zürcher Street Parade. Heute führt er diverse Firmen im Eventbereich. Luciana ist Psychologin. Die Formel ihrer gemeinsamen Ferien sah jahrelang so aus: Ibiza oder Marbella, Sonne, Strand, Party! (mit Ausrufezeichen). Falls sie doch einmal in die Berge fuhren, war nicht das Wallis das Ziel, sondern das nur eine Stunde von Genf entfernte französische Alpenstädtchen Chamonix-Mont-Blanc, der französische Skisport-Ort, an dem anno 1924 die allerersten Olympischen Winterspiele ausgetragen wurden.

Und? Wie finden sie das beschauliche Klosters im Vergleich zur französischen Bergwelt? «Magnifique», sagt Suissa und bricht nur schon angesichts des Mobiliars des stinknormalen Bergrestaurants auf der Alp Madrisa in Begeisterungsstürme aus: «Diese Qualität! Holztische! Diese Verarbeitung – hier gibt es einfach andere Budgets. So etwas würdest du in Frankreich niemals sehen!»

Stichwort Budget: Reisst die notorisch als teuer verschriene Schweizer Tourismus-Bergwelt den Welschen eigentlich ein grosses Loch in die Tasche? «Im Gegenteil! C’est moins cher!», weniger teuer als in Frankreich, sagt Suissa. Und auch Mathias Hirsch ist begeistert, insbesondere von der lokalen Gästekarte, von der er insgesamt fünf- oder sechsmal in den allerhöchsten Tönen schwärmt: «Nur schon dass der öffentliche Verkehr damit vergünstigt ist. Und die Bergbahnen! Und vieles mehr! Und alles ist perfekt organisiert! Das wäre in Frankreich undenkbar!»

++MAG Bonjour les Welsches!

Aktuelle Übernachtungszahlen von Westschweizer Gästen gibt es gemäss Schweiz Tourismus noch keine. Die letzten Zahlen aus dem Tourismusmonitor Schweiz, der grössten schweizerischen Gästebefragung, stammen aus dem Jahr 2017. Sie zeigen, dass etwa 2017 gerade mal 189 Befragte (7,6%) aus sämtlichen Westschweizer Kantonen – also Genf, Waadt, Freiburg, Neuenburg, Jura und Wallis – im Kanton Graubünden übernachteten. Und das ist erst noch übers ganze Jahr gerechnet. Dieses Jahr, so bestätigt Andé Aschwanden, Mediensprecher von Schweiz Tourismus, sei es ganz anders: «Wir haben Rückmeldungen aus der touristischen ‹Front›, dass es ennet dem Röstigraben dieses Jahr sehr viele welsche Touristen gibt.» Das gelte nicht nur für Graubünden, sondern auch fürs Berner Oberland wie auch für die Zentral- und Ostschweiz.

Aktuelle Übernachtungszahlen von Westschweizer Gästen gibt es gemäss Schweiz Tourismus noch keine. Die letzten Zahlen aus dem Tourismusmonitor Schweiz, der grössten schweizerischen Gästebefragung, stammen aus dem Jahr 2017. Sie zeigen, dass etwa 2017 gerade mal 189 Befragte (7,6%) aus sämtlichen Westschweizer Kantonen – also Genf, Waadt, Freiburg, Neuenburg, Jura und Wallis – im Kanton Graubünden übernachteten. Und das ist erst noch übers ganze Jahr gerechnet. Dieses Jahr, so bestätigt Andé Aschwanden, Mediensprecher von Schweiz Tourismus, sei es ganz anders: «Wir haben Rückmeldungen aus der touristischen ‹Front›, dass es ennet dem Röstigraben dieses Jahr sehr viele welsche Touristen gibt.» Das gelte nicht nur für Graubünden, sondern auch fürs Berner Oberland wie auch für die Zentral- und Ostschweiz.

Essen, Budget, Organisation – alles super!

Angesichts von so viel Begeisterung fängt man in typisch deutschschweizerischer Über-bescheidenheit und protestantisch geprägter Tendenz zur Selbstquälung fast schon krampfhaft an, den Wermutstropfen im Begeisterungssturm zu suchen, insbesondere weil die Schweizer Tourismusbranche im Vergleich zur österreichischen eigentlich als nicht besonders freundlich gilt. Das Essen muss doch wenigstens schlechter sein als das in Frankreich? Oder die Bedienung unfreundlicher oder das Design der Hotelzimmer verjährt? Nix da! Alle seien so «sympa», es gebe eine «culture de service», alles sei übersichtlich und beschaulich und schön und sicher, «unsere vierjährige Mila ist mit den anderen Kindern zusammen zum ersten Mal in ihrem Leben allein auf so einem grossen Spielplatz unterwegs – das wäre in Chamonix undenkbar», sagt Luciana Suissa. Dort würde geellbögelt, es gäbe für jede Rutsche riesige Schlangen, «là, il faut se débrouiller», man müsse sich dort durchschlagen. «Ici, c’est calme», hier sei es friedlich – und alle seien einfach anständiger, sogar die Kinder. Überhaupt seien ihre Kinder Benjamin (9) und Olivia (8) sehr empfänglich für die Schönheit der Schweizer Bergwelt, sagt Candy Hirsch. Sie würden sehr wohl bemerken, wie pittoresk Klosters sei und wie majestätisch und schön die Bergwelt. «Wir kommen wieder!», sagen auch die Suissas. In Zukunft würden sie alle die Strandferien einfach mit den Bergferien ergänzen.

Und das Essen? Die Welschen finden sogar das Standard-Salatbuffet mit Wurst-Käse-Salat und Hörnlisalat im Bergrestaurant grandios. «Hier kann man sich etwas Gesundes zusammenstellen und kommt erst noch günstiger», sagt Mathias Hirsch. In Chamonix gebe es einfach Menüs. Und auch sonst sind sie voll des Lobes für die Deutschschweizer Küche. Sie lieben Hörnli mit Ghacktem und Öpfelmues, Züri-Gschnätzlets, Capuns – und nicht zuletzt: Leberli mit Rösti. Ganz ohne Graben.

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