Die Elektrizität hätte das Ende der Kerze sein müssen. Denn zu beleuchten war ihr Zweck. Hell wird es heute, wenn wir den Lichtschalter drücken. Rund um die Uhr. Die Kerze aber ist immer noch da. Wir hängen an ihr.
Der FC Hochdorf auch. Finanziell. Einer seiner Sponsoren ist seit Jahren die Kerzenfabrik im Dorf. Balthasar heisst sie und ist die grösste der Schweiz. Was da passiert, hat nichts mit der Kerzenzieh-Romantik zu tun, die es in der Vorweihnachtszeit in fast jedem Dorf gibt. Balthasar ist ein Industriebetrieb. Die Extruderpresse, so heisst die Maschine, haut jede Stunde 7000 Stabkerzen raus. Am letzten Dienstag waren es weisse. Und zwar die, die in den Regalen von Coop oder Migros liegen.
Offenes Feuer im Haus
Warum holen wir Schweizer uns offenes Feuer ins Haus? Wir, die wir so auf Sicherheit bedacht sind. Vielleicht, weil es irgendwo noch ganz tief in uns drinnen ist, um ein Feuer zu sitzen. Wenn auch nur um ein gezähmtes Feuer – in Form einer Kerze. Und vielleicht auch, weil uns Kerzen noch immer durchs Leben begleiten. Wir entzünden heute eine auf dem Adventskranz, wir pusten sie am nächsten Geburtstag wieder auf dem Kuchen aus. Jede Kerze birgt Erinnerung. Sie ist viel mehr als nur feste Brennmasse mit Docht. Sie ist auch Symbolik.
Ihr Licht ist Hoffnung. Wir zünden sie nicht nur an, um beim Geburtstagsfest zu singen. Sondern gerade auch dann, wenn wir keine Worte mehr haben. Kerzen brannten im Oktober 2001 in der Kirche in Zug. Eine für jeden Menschen, dem Friedrich Leibacher im Kantonsparlament das Leben nahm. 14 insgesamt. Im Vorfeld des Trauergottesdienstes wurden emotionale Diskussionen darüber geführt, ob auch eine 15. Kerze entzündet werden soll, für den Mörder. Es ging nur um eine Kerze. Aber die Kerze stand in diesem Moment für so viel mehr. Diese eine Kerze konnte Menschen tief verletzen. Sie wurde nicht entzündet.
Die Kerze fürs Volk – dank Paraffin
Kerzen, so die landläufige Meinung, sind aus Wachs. Bienen spielen allerdings im Lager der Kerzenfabrik keine Rolle. Dort stehen Tanks, gefüllt mit Paraffin. Paraffin ist ein Abfallprodukt der Erdölindustrie. Entdeckt von Chemikern 1830. Diese Entdeckung machte die Nacht für viele Menschen ein bisschen weniger finster und russig. Denn dank Paraffin waren Kerzen nun auch für arme Leute erschwinglich. Zuvor gab es nur Bienenwachskerzen, die allerdings waren teuer. Nur Adelshäuser und die katholischen Kirchen konnten sich solche Kerzen leisten. Das übrigens ist mit ein Grund, weshalb es noch heute viele Kerzenfabriken in der katholischen Innerschweiz gibt. Sie entstanden rund um die Klöster.
Doch zurück zum Erdöl. Wer Kerzen herstellt, produziert vor allem für Weihnachten. Im Auge behalten muss er allerdings den Krieg. Öl ist umkämpft. Das hat Auswirkungen auf den Preis. In den Nothilfepaketen der Uno für die syrische Bevölkerung wiederum befinden sich immer auch Kerzen. Und ganz besonders den Kindern in Syrien widmete Papst Franziskus vor einem Jahr die erste Kerze des Adventskranzes. «Diese Flammen der Hoffnung mögen die Dunkelheit des Krieges vertreiben», sagte er.
Innert Sekunden
Die Kerze kann vieles, bedeutet vieles. Besondere Gefühle verleiht sie uns aber nur dann, wenn sie nicht Lichtquelle sein muss. Sondern darf. Wenn wir das elektrische Licht ausmachen, um nur die Kerzen brennen zu sehen. Auf dem Adventskranz, am Weihnachtsbaum. Diese Flamme, die lebt, die wärmt, die etwas in uns berührt.
Eine Kerze kann aber auch ganze Existenzen zerstören. Innert Sekunden lodern die Flammen des trockenen Weihnachtsbaums bis zur Decke. Ein paar Sekunden später brennt auch das Sofa daneben.
Meist ist der Mensch schuld und nicht die Kerze. Um das Risiko so klein wie möglich zu halten, gibt es Volker Albrecht (48). Einen ausgesprochen fröhlichen Menschen, der seit zehn Jahren nichts anderes macht, als Kerzen beim Abbrennen zu beobachten. Ist alles in Ordnung, gibt es das Gütesiegel «RAL».
In seinem Labor bei der deutschen Prüfgesellschaft Dekra in Stuttgart prüft Albrecht auch Kerzen aus Hochdorf. Es gibt drei Kriterien für eine sichere Kerze: Sie darf nicht auslaufen, nicht stark russen, und pusten wir sie aus, darf der Docht maximal 20 Sekunden nachglühen. Das Testen braucht viel Erfahrung. Ist aber grundsätzlich einfach, sagt Albrecht. Die Kerze als Gegenstand auch. Und doch übe sie eine grosse Faszination auf ihn aus.
In den Lampion gehört eine LED-Kerze
Die Kerzenfabrik in Hochdorf testet ihre Kerzen auch selber – ständig. Es wird einem feierlich zumute, wenn man ins Labor kommt. Denn auf langen Tischen brennen sicher 50 Kerzen unter Aufsicht. Und ein paar brennen einfach so vor sich hin, in Maschinen, die den Russ messen.
Der deutsche Kerzentester ist ein glücklicher, aber vorsichtiger Mensch. Logisch, es ist ja sein Beruf. Eindringlich rät er, sich nicht nur über die Farben der Kerzen am Christbaum Gedanken zu machen, sondern auch darüber, wie der Christbaum gelöscht werden kann. Sicherer wären LED-Kerzen. Doch bei aller Gefahr: Die sicheren LED-Kerzen können echte Kerzen nie ersetzen, findet er. Nur in einer Situation sind sie vorzuziehen: im Kinderlampion. «Niemand möchte in das Kindergesicht schauen, das gerade seinen liebevoll gebastelten Lampion in Flammen hat aufgehen sehen.»
«Ist einfach schön, nicht?»
In Hochdorf kommt das flüssige, circa 60 Grad heisse Paraffin in einen grossen Turm, wird dort mit Düsen in die Luft gesprüht. Die deutlich kühlere Temperatur im Sprühturm verwandelt das Paraffin in etwas, das aussieht wie Kunstschnee. Dieser Paraffinschnee wird nun mit viel Druck in der Maschine um einen Docht gepresst, geht von dort ins heisse Paraffinbad. Dann kommt der Schock: Die Kerze wird in eiskaltes Wasser getaucht, damit sie glänzt. Ein Roboter verpackt die Kerzen, und ganz am Ende legt Fidaye Zekaj (58) die Packungen in eine Kartonschachtel. Sie tut das seit 20 Jahren. Und zündet abends zu Hause trotzdem noch eine Kerze an. «Ist einfach schön, nicht?», sagt sie.
Recht hat Zekaj. Die 1400 Grad heisse Flamme der Kerze finden alle schön. Doch bei den Kerzen selber gehen die Geschmäcker auseinander. «Duftkerzen sind zurzeit das ganz grosse Thema in der Kerzenindustrie», sagt Hanspeter Grosjean (55), Mitglied der Geschäftsleitung. Und natürlich auch Farben. Wobei die Romands im Gegensatz zu den Deutschschweizern einen stärkeren Hang zu duftenden und farbigen Kerzen haben, wie Grosjean sagt.
Der Kunde bei Kerzen übrigens heisst Kundin. «Primär werden unsere Produkte von Frauen gekauft.» Die mengenmässig meistverkauften Kerzen in der Schweiz sind Rechaudkerzen. Produziert werden sie schon lange nicht mehr in der Schweiz. Auch die von Balthasar nicht. Überhaupt kommt ein grosser Teil der Kerzen aus dem Ausland. Aus Kostengründen. Bei Balthasar 64 Prozent. Vor allem aus Osteuropa.
Kerze aus Fischabfällen
Im Mittelalter war der Schafsbock die Kerze armer Leute. Also sein Fett. Baumwolldocht rein und fertig. Es stank und russte zwar grässlich, gab aber hell. Aus Tierfett Kerzen zu machen, kommt aber gerade wieder in Mode, weil nachhaltig. Denn aus Schlachtabfällen lässt sich Stearin gewinnen. Und Stearin ist neben Paraffin der andere Kerzenwachs, der nicht wirklich das ist, was wir uns unter Wachs vorstellen. Die Kerzenfabrik Balthasar hat auch so eine Kerze im Angebot. Sie ist unter anderem aus zertifizierten Fischabfällen. Grosjean lacht und meint: «Ist halt beim Marketing etwas schwierig.» Pflanzliches Stearin gibt es auch: aus Palmöl. Perfekt, dachte man früher: ein Rohstoff, der nachwächst. Bis Regenwald gerodet wurde für Palmölplantagen.
Wir Schweizer sind Kerzenfreaks, unser Pro-Kopf-Verbrauch ist einer der höchsten in Europa – rund drei Kilo pro Jahr. Der EU-Durchschnitt liegt bei 1,4 Kilo. Auf dem Kerzenpodest sind – logisch – die gemütlichen Dänen. 4,3 Kilo entzündet jeder pro Jahr. Was uns mit Dänemark verbindet? Auch wir haben wegen der Alpen strenge, dunkle Winter. Und noch etwas anderes: Wir können es uns leisten.
Und darum leisten wir uns diesen Deko-Artikel, der brennt und brennt und nach ein paar Stunden einfach nicht mehr da ist. Und erliegen jedes Mal wieder seinem Zauber.