Er wiegt gerade mal 35 Kilo und buckelt zwei Drittel seines Körpergewichts: 20 Kilo schwer ist die Ausrüstung von Benaja Hofer. Mit elf Jahren ist er der jüngste Abfalltaucher der Schweiz. «Im Wasser fühle ich mich schwerelos und frei. Es ist total cool, dass ich da unten bleiben und atmen kann, so wie ein Wassermann.» Der Schüler aus Wohlen AG hat schon ein paar Tauchgänge mit der gemeinnützigen Organisation gemacht, auch beim Cleanup im Hafen von Weggis LU am ersten Septemberwochenende ist er dabei.
Möglich ist das dank der Unterstützung seines Vaters. «Früher hatten die Ritter ja auch Knappen, damit sie in ihre Rüstung steigen konnten, die Rolle übernehme ich jetzt für Benaja», scherzt Andreas Hofer (57). Er trägt seinem Jungen die Sauerstoffflasche und Bleitaschen bis zum Steg, mit ins Wasser steigt er aber nicht. Das übernimmt Nicole Iseli (39), die Tauchlehrerin aus Sempach LU ist im Vorstand des Vereins und Benajas Buddy, so nennen sich die jeweiligen Tauchpartner. «Heute ist es wie im Meer», ruft sie fröhlich aus dem Blau des Vierwaldstättersees. «Die Sicht ist sechs bis acht Meter, bloss so warm ist es leider nicht.» An der Oberfläche sind es zwar etwa 20 Grad, aber schon in fünf Metern Tiefe kühlt man rasch ab, weil man sich als Taucher nicht in dem Tempo eines Schwimmers bewegt und bis zu einer Stunde oder mehr unter Wasser bleibt.
Auf Armeslänge zum Buddy
Benaja setzt seine Taucherbrille auf, nimmt den Lungenautomaten in den Mund und lässt sich mit einem Schritt vom Steg ins Wasser fallen. Unmittelbar taucht er neben Nicole wieder auf, dann folgt das Ritual eines jeden Tauchgangs: Die beiden schauen sich durch ihre Brillen in die Augen, geben sich gegenseitig mit der Hand das Okay-Zeichen, lassen die Luft aus der Weste und sinken langsam gemeinsam unter die Wasseroberfläche.
«Niemand geht weiter als eine Armeslänge von seinem Buddy weg!» So lautet die Instruktion von Matthias Ardizzon (49), Präsident der Abfalltaucher Schweiz, bevor es unter Wasser geht. «Und jeder checkt sich auf der Liste aus, wenn er ins Wasser geht und wieder ein, wenn er rauskommt. Und zwar bevor er aufs WC oder einen Kafi trinken geht.» Das sorgt für Gelächter unter den 22 Taucherinnen und Tauchern und zehn Helfern. Sie haben sich an diesem Samstagmorgen bei der Hafenbeiz Lüüchttürmli versammelt, um Abfall rund um den kleinen Hafen rauszuholen. Wer mehr Erfahrung hat, taucht rund um die Boote, wo es etwas enger und darum anspruchsvoller ist, andere sind ausserhalb des Hafenbeckens.
Leidenschaft für die Unterwasserwelt
Pro Jahr organisiert der Verein über ein Dutzend dieser Aktionen. Die Motivation: «Unsere Leidenschaft für die Unterwasserwelt mit etwas Sinnvollem verbinden», fasst Ardizzon zusammen. «Der Müll hat mich schon immer gestört. Für mich ist das wie eine Sucht, ich kann gar nicht anders unter Wasser, ich sammle immer etwas ein.»
Ardizzon kennt sich mit Müll aus, als Lastwagenchauffeur bei der Recylingfirma Römer AG in Wohlen transportiert er tagtäglich die Überbleibsel aus unserer Konsumgesellschaft. «Jedes Stück Abfall, das in der Natur liegen bleibt und nicht richtig entsorgt wird, ist eines zu viel.» Und für alles, was unter Wasser liegt, gilt noch viel zu oft: Aus den Augen, aus dem Sinn. Ardizzon: «Viele verschwenden keinen Gedanken daran, dass es der Lebensraum von Pflanzen und Tieren ist. Wir haben einmal einen toten Hecht gefunden, in seinem Bauch steckte eine kleine Flasche, die er verschluckt hatte. Daran ist er qualvoll verendet.»
Kaum unter Wasser wird von den Tauchern schon das erste Schwergewicht entdeckt: ein Betonpoller. Mit vereinten Kräften der freiwilligen Helfer an Land wird er an Ketten hochgezogen. «Zufällig ist der bestimmt nicht im Wasser gelandet, das ist ein typischer Lausbubenstreich», sagt die Finderin. Die Geomatikerin Marianne Zurflüh (40) ist mit ihrem Mann für den Cleanup extra aus Burgdorf BE angereist. Ein Grinsen kann sich beim Anblick des Pollers mit Blechschild jedoch keiner verkneifen: «Bitte Hunde an der Leine führen», steht drauf. Auch eine Geldkassette fischt Zurflüh aus dem Wasser – allerdings ohne Inhalt. «Das Abfalltauchen ist ein bisschen wie eine Schatzsuche, man weiss nie, was man da unten findet.»
Sieben Pneus und viel Glas
Innert drei Stunden werden 680 Kilo Abfall rausgeholt und sortiert, bei einem grösseren Cleanup in einer Stadt können es bis zu sieben Tonnen sein. Darunter sind sieben Pneus, drei Sonnenschirme und viele Glasflaschen. Sogar eine ungeöffnete Dose Bier ist dabei. Den grössten Teil der «Beute» macht mit fast der Hälfte Metall aus, hinzu kommt Plastikmüll. «Das ist was vom Schlimmsten, weil es sich nicht abbaut und zu Mikroplastik wird», so Ardizzon. Dazu gehören auch E-Zigaretten-Geräte, schlimm seien auch richtige Zigaretten. «Ich rauche selber, aber ich schmeisse nie eine weg. Viele haben keine Ahnung, was sie damit anrichten.» Ein Stummel ist voller Giftstoffe und verunreinigt 40 bis 60 Liter Wasser. Ardizzon: «Das ist unser Tagesbedarf fürs WC, Händewaschen und Duschen, den wir einfach so verschwenden. Und das jeden Tag 20 Jahre lang, so lange dauert es, bis ein Zigi-Filter abgebaut ist, der ins Grundwasser gelangt.»
Der Müll bleibt das Wochenende am Hafen liegen, bevor die Gemeinde Weggis sich um die Entsorgung kümmert. «Quasi als Ausstellung, um bei den Leuten, die vorbeispazieren, ins Bewusstsein zu rufen, was da alles im Wasser liegt», sagt Alexander Winter, Leiter Entsorgung.
Zwar gehört die Schweiz zu den saubersten Ländern der Welt, das gilt auch für die Gewässer. Winter: «Wenn man aber etwas genauer hinschaut, sieht es anders aus. Freiwillige haben heute auch am Ufer Abfall eingesammelt.» Auf hundert Metern liegen durchschnittlich rund 200 Abfallobjekte, darunter 20 Zigarettenfilter. Das ergibt eine gross angelegte Studie zu Abfällen an Schweizer Seen und Flüssen des Bundesamts für Umwelt, die diesen Frühling publiziert wurde. In den meisten Fällen handelt es sich um Kunststoffe. 115 Tonnen Plastikmüll landen jährlich in Schweizer Gewässern, so eine im Juli 2019 erschienene Untersuchung der Empa im Auftrag des Bundes.
Verantwortung für Plastikmüll
Laut der Umweltschutzorganisation Greenpeace ist der wirkungsvollste Weg, um das Plastik- und Abfallproblem zu bekämpfen, möglichst früh in der Lieferkette anzusetzen. «Die Umstellung von Einweg- auf Mehrwegverpackungen ist ein wichtiger Teil der Lösung», sagt Joëlle Herin, Expertin für Konsum und Kreislaufwirtschaft. «Hersteller und Detailhändler müssen hier Verantwortung übernehmen. Auch der gesetzliche Rahmen muss die Umsetzung von solchen Lösungen fördern.» International zeigen die jährlichen Untersuchungen der Bewegungen Break Free From Plastic, welche Firmen am meisten gelitterte Abfälle verantworten. Letztes Jahr waren dies Coca-Cola, Pepsico, Unilever und Nestlé. Herin: «Der Bericht zeigt auf, wie gross der Umweltnutzen wäre, würden diese multinationalen Unternehmen ihre Verantwortung ernst nehmen.»
Nicht immer steckt Littering, also quasi absichtliche Nachlässigkeit, hinter dem Abfall. Manches wird auch durch Wind und Wetter in den See getragen oder fällt versehentlich rein, so wie Schirme, Hüte oder Sonnenbrillen. So eine hat auch unser jüngster Abfalltaucher schon gefunden, sein bisher grösster Schatz. «Brauchen konnte man sie nicht mehr, sie war rostig und mit Muscheln überwachsen», so Benaja. Er ist nach einer halben Stunde wieder aus dem See gestiegen, denn er hatte einen leichten Krampf im Bein. Das mindert seine Freude nicht, er hat trotzdem jede Menge an die Oberfläche gebracht, vor allem Metallteile, Dosen, alte Teller und Flaschen. Darauf ist er stolz: «Manchmal fragen die Leute, warum wir das tun und ob wir dafür etwas bekommen. Dann staunen sie, dass wir das umsonst und freiwillig machen. Mir machts Spass, und ich tue was für die Umwelt.»
Schwerelosigkeit und Stille
Und schliesslich gibt es unter Wasser nicht nur Abfall zu sehen, sondern eine andere Welt: Momentan hat es viel Seegras und jede Menge Jungfische, Hechte, Eglis und Brachsen. Auch wenn die meisten Taucher vor Ort schon Hunderte Male an den schönsten Spots der Welt unter Wasser waren, schwärmen sie von der Schönheit der Schweizer Gewässer, der Schwerelosigkeit und der Stille: Man höre sogar die Fische knacken, so kommunizieren sie miteinander. Benaja ist auch schon mit dem Tauchvirus infiziert: «Viele haben Angst vor dem Tauchen, das ist schade. Es ist so ein schönes Gefühl da unten, man will das immer wieder tun.»
Aber wie kommt ein Elfjähriger überhaupt zu einem solchen Hobby? Ganz einfach: Der Präsident der Abfalltaucher ist der Nachbar von Andreas Hofer: «Dadurch ist Benaja neugierig geworden, wir sind mit zu den Cleanups, und schliesslich hat er einen Probetauchgang gemacht.» Und demnächst wird Benaja seinen ersten Tauchgang im Meer machen, in den Herbstferien gehts für die Familie Hofer nach Sardinien. Benaja freut sich: «Ich bin froh, habe ich so früh angefangen. Es wäre doch schade, wenn ich das erst mit 30 entdeckt hätte.»
Am 16. und 17. September findet der World Cleanup Day statt, auch die Schweiz macht mit: Über 600 Gruppen – Schulklassen, Vereine, Unternehmen und ganz viele Gemeinden – beteiligen sich am Tag für eine gesunde, saubere und müllfreie Welt. Dazu gehören auch die Abfalltaucher.