Darum gehts
- Morgenroutinen von Influencern: Trend zu perfekten, durchgetakteten Tagesabläufen auf Social Media
- Kritik an unrealistischen Darstellungen und Vernachlässigung authentischer Massstäbe
- Hinter den immer extremeren Routinen steckt der Zwang, sich abheben zu wollen
Um kurz vor 4 Uhr klingelt der Wecker. Jetzt erst mal das Gesicht in eine eisgekühlte Mischung aus Mineralwasser und Zitronensaft tauchen. Später minutenlang mit einer Bananenschale übers Gesicht reiben. Warum? Weil mans kann. Dazwischen stundenlange Trainingseinheiten.
So sieht für den Fitness-Influencer Ashton Hall (29) der Start in den Morgen aus. Zumindest präsentiert er diese Version in den sozialen Medien. Wer wegen «schwacher Mentalität, schlechter Entscheidungen oder mangelnder Produktivität» Mühe hätte, so früh aufzustehen, solle einfach früher schlafen gehen, erklärt Hall grossspurig. Das lässt sich leicht sagen, wenn einem nach den stundenlangen Ritualen einfach das Frühstück gereicht wird.
Vorgebliche Idealbilder hinterfragen
In den sozialen Medien wird sehr viel auf «perfekt» getrimmt. Filter, ästhetische Beleuchtung und Inszenierungen vermitteln ein vermeintliches Idealbild. Doch was passiert, wenn man sich stetig mit solchen vorgeblich «makellosen» Lifestyles konfrontiert sieht?
Die Soziologin Katja Rost (49) von der Universität Zürich sagt zu Blick: «In den sozialen Medien muss man ideal erscheinen, um als perfekt und nachahmenswert wahrgenommen zu werden. Natürlich macht so etwas unglücklich. Im sozialen Vergleich schneidet man dabei zwangsläufig schlecht ab – nicht schön, zu faul, zu undiszipliniert.»
Aber: Es komme auf den Blickwinkel an. «Man könnte es auch umdrehen – immerhin habe ich Spass, während die anderen nur so tun. Also am besten wenig hinschauen und konsumieren oder lieber das Leben leben. So schützt man sich am besten, und nebenbei haben solche Leute dann auch einen kleineren Markt, den sie bedienen können», rät die Expertin. Im Netz reagiert man auf Ashton Halls Morgenroutine gemischt – einige kopieren das strikte Morgenritual, andere machen sich in Persiflagen darüber lustig.
Umfangreiche Beauty-Rituale
Der Start in den Tag beginnt auf Tiktok und Instagram auch mit dem Trend des «Morning Shed». Dahinter stecken bis ins kleinste Detail durchstrukturierte Abend- und Morgenroutinen. Abends heisst es reinigen, peelen und cremen. Danach gibt es Gesichts-, Augen- und Lippenmasken. Der Mund wird beklebt, in die Haare kommen Lockenwickler aus Seide, das Kinn wird durch stramme Bänder gestrafft.
Das Motto lautet: «Je hässlicher du zu Bett gehst, desto heisser wachst du auf.» Über Nacht sollen all die Beauty-Gimmicks für strahlende Schönheit am Morgen sorgen. Ob man mit solch einer Ausstattung noch erholsamen Schlaf bekommt?
Zwang nach Einzigartigkeit
«Rituale und Routinen geben einem das Gefühl der Kontrolle – zumindest im Moment ihrer Durchführung. Das hat etwas Beruhigendes und gibt Halt. Je ungewisser die Welt, desto nötiger könnte das für gewisse Menschen werden», sagt Sozialpsychologe Jakub Samochowiec (46) vom Gottlieb Duttweiler Institut zu Blick. Er betont, dass jedoch ein gefährlicher Druck entstehen könne, sobald die Routinen etwas Zwanghaftes erhalten.
Auf die Frage, warum die ausufernden Routinen in den sozialen Medien immer mehr zum Trend werden, erklärt Katja Rost, dass darin ein «Zwang nach Einzigartigkeit in der heutigen Welt» verankert sein könne. «Hierbei spielt Selbstoptimierung eine grosse Rolle, um im Rat Race gut abzuschneiden. Da dies nun aber alle machen, müssen sich Akteure bemühen, sich noch mehr vom Rest abzuheben. Je komplizierter und länger die Routinen werden, umso höher der Status der Einzigartigkeit.»
Eigenen Weg für sich finden
Die Aufmerksamkeit, ob nun negativ oder positiv, sei damit gesichert. Grundsätzlich könnten Routinen aber tatsächlich eine Entlastung im Alltag sein, erklärt die Soziologin. «Aber sicherlich nicht die obsessiven, zwanghaften, die über Stunden gehen. Sie bieten keinen Mehrwert, da sie nicht ent-, sondern belasten. Grund ist der immense Zeitaufwand – Zeit, die am Ende des Tages fehlt und dadurch Stress verursacht.»
Besser: Sich auf die eigenen Präferenzen verlassen statt auf die Hinweise aus den sozialen Medien, rät die Expertin. Schliesslich sind Tagesabläufe auch sehr individuell und sollten an die eigene Situation angepasst sein.