Ayelet Gunda-Goshen erklärt BLICK ihren neusten Roman
«Wegschauen gehört zur bedingungslosen Liebe»

Wie gehen wir mit unseren Liebsten um, wenn sie plötzlich zu Tätern werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Bestseller-Autorin Ayelet Gundar-Goshen in ihrem neuen Roman «Lügnerin». Ein Besuch in Tel Aviv.
Publiziert: 10.10.2017 um 22:50 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 11:40 Uhr
Ayelet Gundar-Goshen im Wohnzimmer ihrer Eltern – sie sieht sich selbst in ihrer Protagonistin Nuphar.
Foto: Jonas Opperskalski

Es ist ein wirklich schöner Garten, in dem sie sitzt. Die Art von Garten, die zu einer unbeschwerte Kindheit passt. Eine Mauer schützt vor der Aussenwelt, Bäume vor der Sonne. Es ist der Garten, in dem sie gross geworden ist. Ein Garten, in dem nicht nur Blumen wachsen, sondern auch die Fantasie eines Kindes.

Die israelische Bestsellerautorin Ayelet Gundar-Goshen sitzt auch heute, mit 35 Jahren noch hier. Ihre Gross­eltern sind mittlerweile verstorben, ihre Eltern wohnen seither in dem Haus im Norden Tel Avivs. Hier kam sie früher nach der Schule hin und hat sich die Welt neu ausgedacht. Damals waren es Blödeleien, weil ihr die Wahrheit nicht gut genug zu sein schien. Heute werden ihre gedanklichen Kreationen in über ein Dutzend Sprachen übersetzt.

«Lügnerin» heisst Ayelets neuestes Werk. Der Roman erzählt die Geschichte eines israelischen Mädchens, das während ihrer Sommerferien in einer Eisdiele in Tel Aviv arbeitet. Nuphar ist weder hübsch noch beliebt. Als sie eines Tages von einem israelischen Superstar verbal angegriffen wird, erfindet sie ihre Geschichte des versuchten sexuellen Missbrauchs. Und plötzlich interessiert sich die Öffentlichkeit für sie: die Medien, ihre Schulkollegen und auch der Junge Lavie. Täter und Opfer finden sich in ­derselben Person wieder. Eine Lüge ­eskaliert und lässt den Leser mit moralischen Fragen zurück.

Die Bosheit könnte auch vom eigenen Kind ausgehen

Auch Ayelet war während der Grundschule kein beliebtes Mädchen. Sie kann sich deshalb so gut in ihre kleine Protagonistin hineinfühlen, kennt den Schmerz des Nichtgesehenwerdens und des Mobbings. Vielleicht hat sie sich die Welt deshalb schöndenken müssen, damals, im Garten ihrer Oma, ihrer «Safta», wie man auf Hebräisch sagt.

Ayelet Gundar-Goshen im Garten ihrer Eltern in Tel Aviv.
Foto: Jonas Opperskalski / laif

Und sie wünscht sich heute für ihre 3,5 Jahre alte Tochter, dass ihr diese Rolle im ­Leben erspart bleibt. «Wir sind als Eltern so sehr damit beschäftigt, unsere Kinder vor Bosheiten zu schützen, dass wir komplett ausser Acht lassen, dass die Bosheit – wie im Buch auch – von unserem eigenen Kind aus­gehen könnte», sagt sie. «Das eigene Kind können wir uns in der Täterrolle nicht vorstellen.» Man verschliesse vor dieser Möglichkeit die Augen. Es sei eine Blindheit, die dazugehöre, wenn man jemanden liebt. Gar eine notwendige Blindheit, wenn man jemanden bedingungslos lieben will. «Ich habe als Mutter kaum Angst, dass meine kleine süsse Tochter ­jemandem wehtun wird. Aber ich hab extrem Schiss davor, dass ihr jemand wehtun könnte.» Es sei wie Liebemachen im Dunkeln: Man will die ganze Realität nicht sehen.

Die Rolle der Frau und wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen wird, ist eine grundlegende Frage, welche Ayelet nicht nur durch ihr Buch, sondern auch durch den Alltag trägt. Sexuelle Nötigung, Belästigung, Opferrolle … Sie selbst hat sexuelle Belästigung erfahren, so wie die meisten jungen Frauen. Sie wird ihre Tochter in einer Gesellschaft grossziehen, in der sexuelle Gewalt gegen Frauen zum traurigen Alltag gehöre. Die Frage ist nicht, ob …, sondern wann sie ihre Tochter erfahren wird.

Ayelets Mutterrolle ist von vielen Fragen und Sorgen geprägt. Man sagt, jede Mutter habe schlaflose Nächte, sobald Kinder da sind. ­Jüdische Mütter jedoch treiben ihre Sorgen in extremere Dimensionen. Bei ihrer eigenen Mutter war die Angst gar vor dem Kind da. Und als sie erfuhr, dass sie ein Mädchen zur Welt bringen würde, fühlte sie sich leichter: Ayelet wurde 1982 ge­boren. Ein paar Jahre zuvor, 1973, fiel ihr Onkel als Soldat im Jom-Kippur-Krieg. Ein Krieg, der unter anderem von Syrien und Ägypten gegen ­Israel geführt wurde. Obwohl in Israel Militärpflicht für beide Geschlechter herrscht, dienen in den Kampfeinheiten noch immer hauptsächlich Männer. Zu wissen, dass ihr eigenes Kind eines Tages nicht wie ihr ­Bruder an der Front stehen würde, war für ihre Mutter damals eine unheimliche Erleichterung.

Wird der Sohn Täter, oder wird er Opfer?

Opfersein hat viele Gesichter und kennt eigentlich kein Geschlecht, das weiss Ayelet heute. Während sie mit Besorgnis auf die Gesellschaft und ihren Umgang mit Frauen schaut, liegt ihr zehn Monate ­alter Sohn noch in den Windeln. Er ist noch zu klein, um Täter sein zu können. Aber das kann sich in den nächsten Jahren ändern. Auch er wird älter und wird eines Tages Teil der Gesellschaft sein. Auch er wird mit 18 Jahren Armeedienst leisten, und dieser Gedanke löst bei Ayelet bereits jetzt Unbehagen aus. Vielleicht wird auch er eines Tages ­Soldat in einem Krieg sein. Ein Sohn könne sterben oder töten, sagt ­Ayelet. Opfer sein oder Täter. Beide Rollen wünscht sie sich für ihr Kind nicht. Aber wenn sie wählen müsste, dann wählte sie für ihre Kinder die Täterrolle.

Diese Antwort kommt nicht ­unüberlegt. Ayelet nimmt einen Schluck Wasser und schluckt dann einmal leer, als sie darüber nachdenkt. Und plötzlich sind die Gedanken, die sie in diesem Garten der Unbeschwertheit kreisen lässt, ganz real und beängstigend. Man sieht Ayelet ihre Wachsamkeit an. Es scheint, als entgingen ihren offenen blauen Augen nichts. Als ­würden sie die Welt zugleich beobachten, überwachen und analysieren. Und zeitgleich sind es die Augen ­einer Mutter, die in das grelle Scheinwerferlicht des Lebens starren.
«Menschen, die sich eisern an die Wahrheit hielten, seien einfach die, denen die Wahrheit Vorteile bringe. Und für andere sei eine Lüge eben vorteilhafter. Das sei nicht ihre Schuld», lautet eine Passage im Buch. Wer Böses tue, sei nicht zwangsläufig böse, ergänzt Ayelet. Aus der eigenen Perspektive bleibe manchmal nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu verfälschen.

Als Nahstehender und als Mutter sei man so sehr damit beschäftigt, das Böse von seinen Liebsten abzuhalten, dass man sich gar nicht damit auseinandersetzt, das Böse von innen zu bekämpfen. Blindheit gehöre eben zur be­dingungslosen Liebe … Partielles Wegschauen. Was sie sich für ihre Kinder wünsche? «Dass sie glücklich sind. Und gute Menschen werden.» Diese Reihenfolge habe sie bewusst gewählt. Und aus purer Liebe.

Zur Person

Ayelet Gundar-Goshen wurde 1982 in Israel geboren. Sie studierte Psychologie in Tel Aviv-Jaffa sowie Film und Drehbuch in Jerusalem. 2012 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Eine Nacht, Markowitz», 2015 folgte ihr zweites Werk «Löwen wecken».

Die Autorin hat verschiedene Preise gewonnen, etwa den Sapir-Preis oder den Wingate Literary Prize. Sie lebt heute mit ihrem Mann, dem Autor Yoav Shutan-Goshen, und ihren beiden Kindern in Tel Aviv.

Ayelet Gundar-Goshen wurde 1982 in Israel geboren. Sie studierte Psychologie in Tel Aviv-Jaffa sowie Film und Drehbuch in Jerusalem. 2012 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Eine Nacht, Markowitz», 2015 folgte ihr zweites Werk «Löwen wecken».

Die Autorin hat verschiedene Preise gewonnen, etwa den Sapir-Preis oder den Wingate Literary Prize. Sie lebt heute mit ihrem Mann, dem Autor Yoav Shutan-Goshen, und ihren beiden Kindern in Tel Aviv.

Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin Kein & Aber.

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