Ausstellung in Berlin
Dekadente Traumwelten

In Belgien bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Kunstströmung – sinnlich, tiefgründig und magisch. Eine Träumerei.
Publiziert: 24.10.2020 um 13:01 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2020 um 13:10 Uhr
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Jean Delvilles «Porträt der Madame Stuart Merrill-Mysteriosa».
Foto: J. Geleyns / Ro scan
Lilith Frey

Entschlossen lässt sich der Jüngling seine zärtliche Inbesitznahme durch die Wildkatzendame gefallen. Die «Liebkosungen» von Fernand Khnopff bringt die Berliner Ausstellung «Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus» auf den Punkt.

Die Frau ist das Objekt männlicher Begierde. Mal Chimäre, mal Engel, mal Sphinx, mal Medusa. Sie verkörpert die Melancholie, das Misstrauen, die Sünde. Angst, Lust und Angstlust projizieren die Symbolisten auf die Frau. Weib, Tod, Natur und das Unbewusste beflügelten ihre Fantasie, und sie schufen so Traumwelten von schaurig-schöner Ästhetik.

Das 19. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. Der Mensch des Fin de Siècle steht vor einer Welt im Umbruch, die Natur lässt sich durch Wissenschaft und Technik nicht beherrschen, die Geheimnisse der Welt sind entschleiert, Friedrich Nietzsche sagt: «Gott ist tot.»
Die Realität ist grell und kalt. In dieser Stimmung wächst die Sehnsucht nach dem Rätselhaften und Okkulten. Die Gegenwelt der Symbolisten «fort ins Dunkle, Fremde, Versteckte» entwickelt sich zur einflussreichsten Kunstströmung zwischen 1880 und 1910. Mit der 1883 entstandenen Gruppe Les XX (Les Vingt) wird Brüssel zum Knotenpunkt europäischer Kunst.

Wie Prinzessin Diana

Fernand Khnopff, Mitbegründer der Zwanzig, ist in der Berliner Schau am prominentesten vertreten. In «I lock my door upon myself» schaut eine bis zur Büste eingeklemmte Frau von unten nach oben, wie einst Prinzessin Diana. «Weihrauch» drapiert prachtvollen Brokat um eine weibliche Gestalt. Die «Einsamkeit» ist eingerüstet in schwarzes Tuch, in der Männerhand ein Schwert. Und wieder eine Katzendame, diesmal «ein Engel», blond und fügsam, gestreichelt von einem Ritter in Rüstung.

«Die Seele der Dinge», ein einsames Treppenhaus von Xavier Mellery, führt in verlassene Räume. Mit «Der aussätzige Wald», ein unheimliches Wurzelgewirr mit schlangenähnlich hängenden Ästen, hatte William Degouve de Nuncques schon 1898 das Waldsterben im Blick. «Der Tod auf dem Ball» von Félicien Rops dreht sich selbstversunken in einem des Königs würdigen Gewand. Und an seine «Sphinx» schmiegt sich begehrlich die Nacktheit, beobachtet vom Teufel im Frack.

Ferdinand Hodler und «Pornokrates»

Und dann tritt James Ensor auf mit kunterbunten Bildern, ein Kasperlitheater in dieser dunkel wabernden, lust- wie angsterregenden Stimmung, und man atmet auf. Allerdings nur auf den ersten Blick: denn wer da tanzt und sich maskiert, ist der Tod. Der Maler selbst stellt sich als Gerippe vor der Leinwand dar. Positiv besetzt mit einem knienden Knaben auf grüner Blumenwiese ist die «Anbetung» von Ferdinand Hodler, ein Schweizer, kein Belgier, aber ein Gleichgesinnter. Von lichter Leichtigkeit «Pornokrates». Hier zügelt die aufreizend Dekorierte das Schwein an der Leine, ein kolorierter Stich von Albert Bertrand.

Dekadenz ist das Stichwort der brillanten Berliner Ausstellung. Gemeint ist Verfall und Niedergang von Gesellschaft und Kultur Ende des 19. Jahrhunderts. Heute stehen wir am Anfang des 21. Jahrhunderts ebenfalls an einem Wendepunkt. Mit Klimawandel ist die Stimmung ganz allgemein beschrieben. Wie äussert sich die Dekadenz heute? Gibt sie sich in der Mode zu erkennen? In zerlöcherten Nobeljeans, in Körper-Tätowierung? In der Jogginghose, von der Karl Lagerfeld sagte: Wer sie trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Dekadenz heute: nur Vulgarität.

«Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus», Alte Nationalgalerie Berlin, bis 17. Januar 2021

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