Der deutsch-amerikanische Journalist Michael Scott Moore (46) recherchierte im Januar 2012 in Somalia über die dortige Seeräuberei, als er von Piraten als Geisel genommen wurde. Sie verlangten 20 Millionen Dollar Lösegeld. 977 Tage lang war Moore Gefangener. Nach zähen Verhandlungen liessen ihn die Piraten am 22. September 2014 frei – gegen ein Lösegeld von 1,6 Millionen Dollar. Für die Piraten war es ein Verlustgeschäft. Die Haft von Moore kostete sie rund zwei Millionen Dollar.
Herr Moore, wie denken Sie an diese 977 Tage zurück?
Michael Scott Moore: Natürlich bin ich verbittert und traurig über die verlorene Lebenszeit. Aber am meisten verspüre ich unendliche Dankbarkeit, dass ich frei bin. Ich glaubte am Ende meiner Gefangenschaft nicht mehr daran, wieder freizukommen.
Sind Sie wütend?
Sehr, aber nicht jeden Tag. Was mich am meisten wütend macht, ist die Sturheit der Piraten. Sie wollten 20 Millionen Dollar für mich, was viel zu viel ist. Sie waren nicht besonders intelligent, haben geschlampt und alles in die Länge gezogen.
Wie sahen Ihre Tage aus?
Ich bin immer um fünf Uhr aufgewacht, beim ersten Ruf des Muezzins. Schlafen konnte ich nie gut, obwohl Schlaf das Schönste war. Während 18 Monaten schlief ich in Ketten. Du willst wirklich nicht mit Ketten an den Füssen in einem dunklen Raum aufwachen, in dem nichts ist ausser Beton. Um möglichst schnell aus den Ketten zu kommen, fragte ich gleich nach der Toilette. Dann hörte ich Radio. Meist empfing ich nur BBC oder Radio Vatikan auf Kurzwelle. Manchmal Pop aus dem Sultanat Oman.
Durften Sie sich bewegen?
Ich war immer in einem Raum eingesperrt. Nur für die Toilette durfte ich raus. Das hat mich sehr geschwächt. Nach meiner Freilassung konnte ich nicht mehr laufen. Ein normaler Tag fühlte sich an wie ein Fussballspiel. Meine Knie- und Fussgelenke waren wochenlang geschwollen. Ich hatte einfach zu wenig Muskulatur.
Was war in diesem Raum?
Nichts. Nur nackter, dreckiger Beton. Ich campierte auf Beton.
Sie waren zum Nichtstun verdammt?
Ich habe jeden Tag gearbeitet. Vor der Geiselnahme schrieb ich an
einem Roman. Den habe ich jeden Morgen für mindestens zwei Stunden im Kopf redigiert. An unfertigen Stellen schrieb ich weiter. Dialoge und Passagen erfand ich und lernte sie dann auswendig.
Sie schrieben Ihr Buch im Kopf?
Währen meiner Gefangenschaft, gab es eine Zeit, da hatte ich keine Nachrichten, kein Radio, kein Papier. Ganz selten kam es vor, dass ich Sätze niederschreiben konnte, obwohl sie mir die Notizbücher immer wieder wegnahmen. Ein paar durfte ich behalten. Als ich rauskam, habe ich alles sofort in den Computer getippt. Schreiben half, den Verstand nicht zu verlieren.
Was taten Sie den Rest des Tages?
Ich zehrte von meinem alten Leben, blätterte in schönen Erinnerungen. Und dachte unschöne Dinge über die Piraten (lacht). Manchmal führte ich gar freundliche Unterhaltungen mit meinen Peinigern. Man kann nicht 24 Stunden am Tag wütend sein.
Hatten Sie Albträume?
Nein, ich hatte immer schöne Träume von daheim in Deutschland und Kalifornien. Aufzuwachen, das war der Albtraum.
Was bekamen Sie zu essen?
Fast nur Bohnen. Und davon viel zu wenig. Ich litt jeden Tag Hunger. Ich verlor 20 Kilogramm. Ab und zu trat ich in den Hungerstreik, um mehr Macht zu bekommen gegenüber den Piraten. Es hat meiner Gesundheit natürlich nicht geholfen. Mein Immunsystem brach zusammen.
Mögen Sie Bohnen noch?
Ich hasse sie, will sie nie mehr essen.
Wie fühlt sich ein Hungerstreik an?
Mein längster Hungerstreik dauerte eine Woche. Der Körper weiss irgendwann nicht mehr, woher er Essen bekommen soll. Du gerätst in Panik, so kurz vor dem Verhungern. Darauf war ich nicht vorbereitet.
Wie hat diese Tortur Sie verändert?
Ich hoffe, ich bin stärker geworden.
Was war das Schlimmste an der Gefangenschaft?
Der Tag, als mein Mitgefangener, mein Freund Rolly Tambara aus den Seychellen, an einem Baum hing und die Piraten mit einem Stock auf seine nackten Fusssohlen schlugen. Sie folterten ihn vor meinen Augen.
Wie behandelten die Kidnapper Sie?
Wie Vieh. Sie fanden es moralisch in Ordnung, wie sie mit mir umgingen. Sie rechtfertigten sich sogar mit dem Koran. Dass es okay sei, von Ungläubigen zu stehlen.
Haben Sie ihnen vergeben?
Ohne Vergebung hätte ich nicht überlebt. Denn dann hätte ich eine der herumliegenden Kalaschnikows genommen und versucht, so viele Piraten wie möglich zu erschiessen. Das wäre reiner Selbstmord gewesen.
Sie dachten an Suizid?
In den letzten Monaten meiner Gefangenschaft spielte ich täglich mit diesem Gedanken.
Was half, zu überleben?
Am Roman zu schreiben und mich in Gedanken aus meinem früheren Leben zu verlieren. Und Yoga. Ich hatte eine Matte. Einige meiner Wachmänner haben sogar mitgemacht, sie durften den Raum ja auch nie verlassen. Ich war der Yoga-Lehrer meiner Kidnapper! (lacht)
Haben Sie sich oft gefragt: Warum ich?
Natürlich. Die logische Antwort dazu ist: Warum nicht ich?
Sie hatten Ihr Schicksal akzeptiert?
Nie vollständig. Aber so weit, dass ich nicht gewalttätig wurde. Ich rang ständig damit, nicht rauszugehen und jemanden zu erschiessen.
Half Ihnen die Hoffnung auf Freiheit, durchzuhalten?
Nein, die Hoffnung hatte ich aufgegeben. Als die Piraten mir sagten, ich sei frei, glaubte ich das nicht. Ich war bis zum Schluss skeptisch. Als sie mich in ein Auto setzten, dachte ich, sie verkaufen mich weiter. Erst, als ich mit einem Unterhändler telefonieren konnte und die Stimme meiner Mutter hörte, glaubte ich es.
Wie gewöhnt man sich an die Freiheit?
Vieles musste ich neu erlernen, etwa Entscheidungen zu treffen. Zudem konnte ich nicht mehrere Leute auf einmal treffen. Das überforderte mich. Ich verstand die zwischenmenschlichen Signale nicht mehr.
Sind Sie körperlich wieder fit?
Seit letztem Sommer bin ich wieder bei 90 Prozent. Meine Körperkraft musste ich mir über sechs Monate wieder aufbauen. Ich bin Surfer und wollte so bald wie möglich wieder Wellen reiten. Im Herbst 2014 gelang mir dies. Das war sehr wichtig.
Vertrauen Sie den Menschen noch?
Ja, jetzt schon wieder. Ich musste das langsam neu lernen.
Können Sie alltägliche Sorgen noch ernst nehmen angesichts des Leids, das Sie erfuhren?
Es ist eine komplett andere Welt. Als ob man vom Krieg zurückkehrt.
Hat Sie die Geiselhaft etwas gelehrt?
Die Kraft zu haben, so was zu überleben. Dass ich lernen konnte, zu vergeben. Und wie übel Menschen sein können! (lacht)
Ist Ihr Menschenbild erschüttert?
Im Gegenteil. Wenn man vor dem Tod steht, realisiert man, dass man nicht genug geliebt hat.
Sie schreiben derzeit Ihre Memoiren. Zur Selbsttherapie?
Ja. Ich will in meinem Buch aber nicht nur von meiner Geiselhaft erzählen. Es muss mehr sein als das. Ich will nicht ewig Geisel bleiben.
Sind Sie glücklich?
Es ist ein Auf und Ab. Zurzeit dreht sich alles ums Buch. Mich aufs
Schreiben zu konzentrieren, hilft. Als ich frei kam, sagte mir ein FBI-Mann mit Kriegserfahrung: «Wenn du deine Geschichte hundert Mal erzählst, wirst du irgendwann wieder heil.»
Dieses Interview erschien im Ringier Unternehmensmagazin DOMO.