Dieser Blick. Und eine Stimme, die durch Mark und Bein geht. Suchte Hollywood in den letzten 30 Jahren einen teutonischen (Nazi)-Fiesling, war Jürgen Prochnow (74) sein Liebling. Jetzt mimt der Deutsche in der Verfilmung des Martin-Suter-Romans «Die dunkle Seite des Mondes» einen Kapitalisten – und jagt Moritz Bleibtreu durch den Wald.
Herr Prochnow, wer ist böser: der skrupellose Kapitalist oder der Nazi?
Jürgen Prochnow: Wahrscheinlich der Nazi, das war ein so
einzigartiges Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, das ist nur jetzt vom IS zu toppen.
Sie spielen in «Die dunkle Seite des Mondes» einen rücksichtslosen Unternehmer – einen Schweinekapitalisten nannten Sie ihn.
Martin Suter hat eine Figur geschaffen, die genau dies repräsentiert. Einen Unternehmer oder Banker, dem es im Leben einzig darum geht, Geld zu machen. Die Gier ist so stark, alles Menschliche geht in seinem Charakter verloren. Und ich stelle fest, dass diese Tendenz weltweit immer mehr Realität wird. In Amerika ist derjenige am höchsten angesehen, der am meisten Geld hat – egal, woher das Vermögen stammt. Wenn ich nur schon diese Börsenspekulanten sehe, die Milliarden-beträge verzocken und ganze Staaten in den Abgrund reiten ...
... und keinen Bezug zum Geld mehr haben.
Genau. Wenn man dagegen sieht, was ein Arbeiter, der seine Aufgabe rechtschaffen macht, verdient, steht das in überhaupt keinem Verhältnis mehr. Das Menschsein – also Empathie, Mitgefühl, Nächstenliebe – wird immer nichtiger.
Ist der Mensch heute böser als zu der Zeit, als Sie jung waren?
Ich glaube leider schon. Dagegen spricht zwar die Willkommenskultur, die viele Deutsche den Flüchtlingen entgegenbringen. Aber in Amerika habe ich mit der Devise «Another day, another dollar» leben müssen. Wer es nicht schafft, ist selbst schuld an seinem Versagen. Als ich Schauspieler wurde, war mir Geld nicht wichtig. In meinen ersten Jahren am Theater habe ich kaum etwas verdient. Aber ich war glücklich.
Verdient haben Sie mit dieser Rolle auch nicht viel. Es heisst, die Filmemacher hätten sich Sie niemals leisten können.
Das stimmt. Ich habe mit grossen Zugeständnissen für einen Bruchteil meiner üblichen Gage gespielt.
Glauben Sie, dass Zuschauer durch den Film etwas lernen?
Das hoffe ich sehr. «Die dunkle Seite des Mondes» kann anregen, darüber nachzudenken, wo sich die Gesellschaft hinbewegt. Diese Reflexion ist an meiner Filmfigur Pius Ott völlig vorbeigegangen. Und an diesem Urs, gespielt von Moritz Bleibtreu, schrammt sie knapp vorbei.
Sie verkörperten in so vielen Geschichten das Böse. Im Gespräch wirken Sie sehr sanft. Wie begeben Sie sich in die Rolle des Sadisten?
Es gibt da ganz verschiedene Methoden, sich in einen see-
lischen Abgrund hineinzuversetzen. Ich spielte einst einen polnischen Immigranten, der seine Frau erstochen hat. Eine wahre Geschichte. Mein Produzent hat damals den Täter im Gefängnis interviewt, und ich konnte die Bänder studieren.
Klar. Eine reale Person zu verkörpern, ist eine schwierige Aufgabe. Ich habe übrigens damals meinen U-Boot-Kapitän aus «Das Boot», diesen wunderbaren Mann, noch kennengelernt.
Wenn man in der Filmgeschichte zurückschaut, sind die Bösen immer männlich. Warum?
Nicht immer. Denken Sie an «Basic Instinct».
Sharon Stone setzt darin ihre Weiblichkeit als Waffe ein – das ist eine Ausnahme. Sonst sind diabolische Menschen immer als Männer angelegt. Hat der Mann mehr Böses in sich?
Ja. Wir leben nach wie vor in einer patriarchalischen Gesellschaft, die sich nur langsam wandelt. In den arabischen Ländern ist das noch stark so.
Der Mann hat das Sagen und muss deshalb der Täter sein?
Die Frauen sind die Unterdrückten, der Mann bestimmt. Dieses Rollenbild schwebt noch immer mit. Man würde das gesellschaftliche Bild auf den Kopf stellen, wenn man die Frauen zu den Film-Bösewichten machen würde. Meine Figur in «Die dunkle Seite des Mondes» könnte nie weiblich sein.
Die Hauptfigur im Film flüchtet in den Wald und erlebt ihre Katharsis, also Reinigung. Könnten Sie im Wald überleben?
In meinem Alter wohl nicht mehr. Aber ich verspüre grosse Sehnsucht nach dem Wald, er ist meine Kirche. Ich kriege dort das Gefühl, friedfertig zu werden und in einem Umfeld zu sein, das Ruhe und Versöhnung ausstrahlt.
Was böse und was gut ist, definiert die Moral, und die ist bei uns vom Christentum geprägt. Wie halten Sie es mit Gott?
Ich bin christlich erzogen und konfirmiert worden, als Kind war ich sehr gläubig. Und ganz viele von diesen christlichen Grundsätzen habe ich verinnerlicht. Aber ich glaube an keinen Gott mehr, ich kann es nicht.
Weshalb?
Diese ganze kirchliche Institution ist ein Macht-Werk, das ist irgendwann mal entstanden, und Menschen haben es zusammengezimmert. Ich kann auch nicht ernsthaft glauben, dass ein Mensch von den Toten auferstanden ist.
Und was ist mit dem Leben nach dem Tod?
Daran glaube ich auch nicht mehr. Ganz im Gegensatz zu meiner Frau: Sie ist überzeugt, dass danach noch etwas ist. Aber so, wie das von der Kirche propagiert wird, mit Fegefeuer und so, ist es mir fremd.
Wie fremd sind Ihnen Drogentrips? Im Film nimmt die Hauptfigur Urs halluzinogene Pilze. Sie waren jung in den wilden 1970er-Jahren.
Ich habe damals ein bisschen Hasch geraucht, weiter bin ich nie gegangen. Auf LSD war ich nie neugierig. Ich bin dem Exzess nie verfallen, das liegt zur einen Hälfte an den Genen, zur anderen an meiner Erziehung.
Urs entdeckt durch die Drogen das Böse in sich. Sind Sie selbst auch schon über eigene Abgründe erschrocken?
Ich bin schon oft über die dunkle Seite in mir erschrocken. Das Spielen eines Nazis hat beispielsweise sehr an mir genagt. Ich spüre gewisse Gefahren in mir, wenn ich mich intensiv in eine Rolle hineinbegebe.
Wann in Ihrem Leben konnten Sie sagen, dass Sie sich selbst gefunden haben?
Ich weiss gar nicht, ob es diesen Moment jemals gab. Ich habe immer wieder neue Reisen angetreten. Ehen beispielsweise.
Sie haben im Frühjahr zum dritten Mal geheiratet. Wie wird man 74, ohne den Glauben an die Liebe zu verlieren?
Ich hatte ihn nie verloren. Ich dachte wirklich, dass es nicht mehr kommt, obwohl ich hoffte. Dies jetzt nochmals zu erfahren, ist etwas ganz Besonderes.
Liebt man anders mit 74?
Bewusster. Der Körper zerfällt, man ist nicht mehr so attraktiv wie einst. Dabei stellt man fest, dass das Wichtigste die Liebe ist – und damit meine ich nicht die körperliche.
Geht Liebe ohne Sex?
Früher dachte ich, eine Beziehung ohne Sexualität sei nichts. Aber ich wurde belehrt und weiss heute, dass es geht.
Bereuen Sie etwas im Leben?
Bestimmt einige Filme. Und privat auch – einige Schritte, die ich gemacht, Beziehungen, die ich geführt habe.
Ich durfte kürzlich Ihren Kollegen Samuel Jackson interviewen. Er sagte, dass ein Mann erst ein solcher ist, wenn er Tränen zulassen kann.
Ein weiser Mann und super Schauspieler. Das Leben hat mich weinen gelehrt. Die letzten Tränen sind wenige Tage her.
Warum weinten Sie?
Es ging um meine Kindheit und Erinnerungen an meinen Vater. Ich bin daran, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben, meine Kinder können sich überhaupt nicht vorstellen, in was für einer Zeit ich aufgewachsen bin. Die Auseinandersetzung damit hat nie aufgehört und wühlt mich heute noch sehr auf.
Sie wurden 1941 in Berlin mitten im Krieg geboren.
Und als kleiner Junge wollte ich Bäcker werden, weil wir nichts zu essen hatten.
Ist Ihnen der Hunger von damals noch präsent?
Immer. Hunger vergisst man nie. Wer das nicht gespürt hat, kann es nicht nachvollziehen. Wir waren völlig unterernährt als Kinder. Ich hatte Hilusdrüsen-TBC, Furunkulose. Alles eine Folge der Unterernährung.
Und trotzdem sind Sie 74 geworden. Was ist das Schöne am Altern?
Die Gelassenheit, mit der man das Leben und das, was kommt, anschaut. Ich geniesse den anderen Blickwinkel sehr.
Sie altern in Würde – im Gegensatz zu Ihren Hollywood-Kollegen. Wie erleben Sie Ihr Zuhause in Los Angeles?
Es ist furchtbar! Wenn Leute sich da unters Messer legen,
ist das eine Schande. Die versuchen, das Alter aufzuhalten, nicht nur Frauen. Wenn ich in Hollywood über die Strasse gehe, sehe ich von hinten Schönheiten mit wallenden Haaren, und dann drehen die sich um, und ich denke: Oh nein, ein Graus! Der Mensch ist doch mit Furchen erst richtig interessant.
Nach all den seelischen Abgründen, in die Sie für Ihre Rollen schon geschaut haben: Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?
Ja, er trägt viel Gutes in sich. Doch das Böse wartet. Geduldig.