Dass Adolf Muschg 90 Jahre alt ist, das möchte ich gar nicht wissen. Meine Verehrung verweigert sich der Einsicht, dass dieser gute, enge Freund älter, ja, sogar alt werden könnte! Er war immer schon da. Und er soll immer da sein in meinem Leben.
Verehrung sage ich, weil dieses Wort präzise ausdrückt, was ich seit wohl 60 Jahren für Adolf Muschg empfinde. Ich verehrte ihn schon, als ich meine ersten journalistischen Zeilen schrieb. Denn er war stets zur Stelle, wenn die Gesellschaft einer skeptischen, einer kritischen, einer widerständigen Stimme bedurfte.
Wer sich in meiner Generation in den Kopf gesetzt hatte, niemals auf die Seite der Mächtigen zu wechseln, der fand in Adolf Muschg ein Vorbild. Und wer sich in den Kopf gesetzt hatte, immer auf der Seite der Ohnmächtigen zu stehen, der schaute ebenso auf ihn, den Zürcher Professor. Man musste Adolf Muschg nicht persönlich kennen, um ihn persönlich in Anspruch zu nehmen.
Ja, das gibt es: ein Leben, das ganz und gänzlich unbeirrbar, auf protestantische Weise tüchtig, der Freiheit und der Gerechtigkeit verpflichtet ist – es ist das Leben von Adolf Muschg. Sein Leben wird den Forderungen des Tages gerecht, ohne die Forderungen der Literatur diesem Anspruch zu opfern.
Adolf Muschg ist nicht «politischer Schriftsteller». Er ist ein Poet von Liebe und Verlust, von Glück und Schuld. Wenn er sich in die tägliche und alltägliche Politik einmischt, dann ist Muschg Citoyen. Beides zusammen – Poet und Citoyen – ergibt den ganzen Muschg.
Das aber irritiert die Schweiz: praktizierende Dichter-Intellektuelle. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt begleiteten zeitlebens Misstrauen und Abneigung – Dürrenmatt reagierte mit Grandezza, Max Frisch mit Bitterkeit. Heute werden beide sogar von Blättern gefeiert, denen sie einst als politisch fragwürdig galten. Die Schweizer Bourgeoisie, die das Geld konsequent vor den Geist setzt, prahlt stolz mit den Namen zweier Weltbürger, die sie jahrzehntelang als intellektuelle Landesverräter diffamierte.
Adolf Muschg hält die Stellung. Unbeirrbar und durch nichts zu erschüttern, erinnert er uns an die Tugenden der demokratischen, der solidarischen, der offenen Gesellschaft – die bürgerliche Gesellschaft! Was haben wir denn sonst? Und immer, wenn es um Bürgerlichkeit geht, kommt mir Adolf Muschg in den Sinn: der Bürger Muschg – irgendwie die Schweiz, verdichtet zum Dichter, ihre Personifizierung.
Wer neunzig ist, trägt das Dasein in sich. Für Adolf Muschg heisst Dasein – da sein! Das ist sein persönlicher Imperativ.
Der Schweizer Muschg ist der Europäer Muschg: in Europa die intellektuelle Stimme der Schweiz, in der Schweiz die intellektuelle Stimme Europas.
Adolf Muschg macht kein Aufhebens von sich. Er liebt die republikanische Bescheidenheit. Doch was die Schweiz betrifft, ist er in seinem Anspruch nicht bescheiden: Er wünscht dem Land die Rolle als europäisch mitbestimmende Nation. Der passive Nachvollzug aller Entwicklungen der EU ist für Adolf Muschg zu schäbig, seinem Nationalstolz völlig unangemessen und unter der Würde des grossartigen Landes.
Ja, dieser in der Welt geachtete und bewunderte Dichter ist zutiefst Patriot, zutiefst Schweizer: kritisch und freundlich und herzlich – und zärtlich.
Ein zarter Fels.