Editorial zu den Sparmassnahmen
Die Witwenschüttler von Bundesbern

Die Schweiz ist ein geniales Gebilde – aber zunehmend blockiert durch den Wildwuchs der Interessenvertreter: Wer die schwächste Lobby hat, bleibt auf der Strecke.
Publiziert: 27.10.2024 um 07:18 Uhr
Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Philippe Rossier
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Jetzt also die Witwen. Die lebenslange Rente, die Frauen nach dem Tod ihres Ehemanns zusteht, soll gestrichen werden. So lautet der Plan des Bundesrats. Er stützt sich auf ein Strassburger Urteil, das die Ungleichbehandlung der Geschlechter bemängelt – und verspricht sich einen schönen Spareffekt von 350 Millionen Franken.

So sinnvoll dieser Ansatz ordnungspolitisch erscheinen mag, so harmonisch passt er in die Reihe der Signale, die Bern in dieser Legislatur aussendet: Je schwächer die Lobby einer betroffenen Gruppe, desto mutiger wird bei ihr gekürzt.

Dieser Eindruck entsteht auch bei den Sparvorschlägen der Experten um Serge Gaillard – der in seiner Zeit als Topbeamter unter Finanzminister Ueli Maurer interessanterweise nie mit vergleichbaren Rezepten auffällig wurde. Gaillards Gremium machte bei 44 Steuerausnahmen ein Kürzungspotenzial aus; die Regierung einigte sich auf zwei: die höhere Taxierung von Auszahlungen aus der zweiten Säule und der dritten Säule. Darunter leiden gewiss nicht die Ärmsten im Land, aber doch grosse Teile der Mittelschicht, die zunehmend zwischen den Teil-Interessen zerrieben wird. Wen wird Leviathans Bannstrahl als Nächstes treffen?

Verschont werden politisch geschützte Bereiche wie die Mineralölsteuer für Pistenbullys, der Dieselsteuererlass für Landwirte oder die Mehrwertsteuerbefreiung für Kultur- und Sportevents.

Die Schweiz ist ein geniales Gebilde, das zuverlässig Wohlstand erzeugt und regelmässig die vorderen Plätze bei internationalen Rankings belegt – dennoch zeigen sich gefährliche Zersetzungstendenzen. Ein Dschungel unzähliger Interessengruppen sowie kantonaler, regionaler und kultureller Befindlichkeiten führt dazu, dass plötzlich andere Nationen ihre Probleme besser lösen können. Das zeigt sich bei den weltweit höchsten Gesundheitskosten, beim Asylwesen oder in der Europapolitik. Ein praktisches Beispiel illustriert heute der Blick: Den Dänen ist es gelungen, 60 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer in ihren Arbeitsmarkt zu integrieren. In der Schweiz sind es 28 Prozent. Über die Alpen weht ein Hauch von Staatsversagen.

Die Schweiz ist ein Paradies. Und eine Public-Affairs-Hölle: Hier haben Traktoren, Pistenbullys, Konzertbühnen und Fussballrasen eine bessere Lobby als die Witwen.

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