Wir lassen gerade ein Jahr hinter uns, in dem ein schwieriges Wortpaar dominierte: entweder … oder. Jede politische Diskussion beinhaltet mittlerweile das Gebot, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Diese Mode entstand einst in politischen Talkshows, kam dann durch Social Media erst richtig in Fahrt und erreichte ihren vorläufigen Tiefpunkt während der Covid-Pandemie: Bist du für oder gegen den Lockdown? Bist du für oder gegen die Impfung? Diktatur – ja oder nein? Sie wissen schon.
Nun hat sich diese Schwarz-Weiss-Plage durch den Ausbruch neuer Kriege noch ausgeweitet, wie ein Streifzug durch Internetforen bestätigt. So scheint es für manche Menschen unvorstellbar, dass man sich gleichzeitig mit Israel solidarisieren und die zehntausend Toten in Gaza für einen wahnsinnigen Blutzoll halten kann. Und andersrum: Wo sind die Palästina-Supporter, die zugleich die Grundwerte von Hamas und Hisbollah verurteilen? Wie immer, wenn der Mainstream zaudert, muss der Hofnarr ran. Das deutsche Satireportal «Der Postillon» titelte punktgenau: «Groteske Laune der Natur? Mann imstande, Mitgefühl für israelische UND palästinensische Opfer zu empfinden.»
Beispiele für den neuartigen Entweder-oder-Fetisch liefern etliche andere Themen, von Ukraine-Krieg über Migration bis zur Gendersprache. Die trübe Diagnose: Die Gesellschaft krankt an einer Bipolaren Störung.
Besonders tragisch ist, dass damit eine goldene Errungenschaft der Aufklärung aus der Hand gegeben wird: das Zweifeln an der eigenen Position, das Reflektieren, die Grautöne der Meinungen. Diese Gepflogenheit der Dialektik, die Offenheit für Neues, der Wettbewerb der Argumente unterscheidet seit René Descartes das Abendland von anderen kulturellen Räumen – und war stets der wichtigste Nährboden für neue Ideen.
Das durch und durch polarisierende Wutbürgertum hingegen ist nicht nur gefährlich für den Blutdruck, sondern auch für das soziale Klima.
«Empört euch!» hiess ein Bestseller der Zehnerjahre. Für das neue Jahr wäre das Gegenteil wünschenswert: Entspannt euch!