Editorial über die Selbstzensur der «Washington Post»
Ein Lehrstück in Sachen Freiheit

Jeff Bezos, der Besitzer der US-Traditionszeitung, untersagt seiner Redaktion eine Wahlempfehlung für Kamala Harris. Was eine heikle Frage aufwirft: Wie unabhängig ist Journalismus von seinen Geldgebern?
Publiziert: 03.11.2024 um 09:01 Uhr
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Jeff Bezos, Besitzer der «Washington Post», hofft auf Geld der US-Regierung für seine privaten Weltraumpläne.
Foto: imago/ZUMA Press
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Abseits der weltweiten Aufregung um die Präsidentschaftswahlen in den USA und verdeckt von der barocken Vielfalt mehr oder weniger berechtigter Mahnungen und Warnungen vor dem Berserker Trump hat sich in der letzten Woche eine Episode ereignet, die ein Lehrstück ist für das, was wir gemeinhin Freiheit nennen.

Die «Washington Post», amerikanisches Leitmedium, journalistische Institution mit historischen Wegmarken wie der «Watergate»-Recherche, verzichtet diesmal auf eine Wahlempfehlung, ein «Endorsement», wie sie die grossen US-Medientitel traditionell vor dem Urnengang veröffentlichen.

Die «Post» gehört Amazon-Gründer Jeff Bezos. Der hat sich mit dem Kauf der Zeitung ein neues Hobby zugetan und liess sich dafür als Mediensamariter feiern. Damit liegt der drittreichste Mann der Welt im Trend – von Amerika über Frankreich bis in die Schweiz greifen finanzstarke Mäzene nach der Presse. Beispiele gibt es links wie rechts.

Das ist so legal wie legitim, vielleicht sogar sinnvoll, in manchen Fällen womöglich die Lösung – doch hat Bezos’ Manöver eine höchst problematische Komponente: Nach der Trump-Wahl 2017 verschrieb sich die «Post»-Redaktion der Losung «Democracy Dies in Darkness» («Demokratie stirbt im Dunkeln») und dem Kampf gegen den republikanischen Charismatiker, der gegen «Feinde im Innern» hetzt oder die USA als ein von Hunde essenden Haitianern «besetztes Land» bezeichnet. Und nun das. Der Eigentümer verordnete seiner Redaktion Neutralität und verbot seinem Spielzeug die Parteinahme für Kamala Harris. Weil Bezos, so die gängige Erklärung, für seine privaten Weltraumpläne auf den Goodwill der künftigen US-Regierung angewiesen sei.

Deshalb kastrierte er im Handstreich seine stolzen Qualitätsjournalisten vor den Augen der Weltöffentlichkeit und würdigte sie zu politischen Flagellanten herab. Mit direkten Folgen im linksliberalen Publikum: 250’000 Abonnenten sollen der Zeitung aus Protest den Rücken gekehrt haben. Namhafte Reporter sind abgesprungen.

Der Vorfall beleuchtet ein Kernthema unserer Zeit: Die freie Gesellschaft braucht eine freie Presse. Wie frei aber sind Medien, die von einem einzelnen Geldgeber – oder vom Staat – am Leben erhalten werden?

Amerika ist das Heimatland von «free speech», der Meinungsfreiheit. Hoffentlich auch nach dem kommenden Dienstag.

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