Editorial über den Profiteur in Washington
Joe Bidens letzter Coup

Der Mann im Weissen Haus wird nicht zum ersten Mal unterschätzt. Im Nahostkonflikt entpuppt sich der US-Präsident als Meister des Kalküls: Er lässt Israel im Kampf gegen Irans Verbündete die Drecksarbeit machen. Seine Rechnung geht auf.
Publiziert: 20.10.2024 um 07:15 Uhr
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Aktualisiert: 20.10.2024 um 07:26 Uhr
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Joe Biden ist ein Taktikfuchs.
Foto: AFP
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Nach den Wahlen zum US-Kongress 2022 rief jemand den Republikanern zu: «Hört endlich auf, Joe Biden zu unterschätzen!» Der Weckruf stammte nicht von einem Anhänger des Präsidenten, sondern vom eingefleischten Republikaner und früheren Sprecher des Repräsentantenhauses Newt Gingrich, dem parteipolitischen Wadenbeisser im Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton.

Im Spätherbst von Bidens Amtszeit drängt sich jetzt ein Verdacht auf: Die Welt, auch Meinungsmacher und Experten in der Schweiz, haben Biden vielleicht schon wieder unterschätzt.

Die Bilder des sterbenden Hamas-Chefs Jahia Sinwar in den staubigen Ruinen von Gaza sind zwar ein wichtiger Coup für Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu; es sei sein «Osama-bin-Laden-Moment», schreibt die «New York Times». Im allgemeinen Freudentaumel geht jedoch unter, dass sich in Washington noch einer die Hände reibt: Joe Biden, Taktikfuchs mit mehr als einem halben Jahrhundert Politikerfahrung. Der US-Präsident schaffte, was all seine Vorgänger nicht schafften – er hinterlässt seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin einen massiv geschwächten Iran. Jahia Sinwar, Ismail Hanija und Hassan Nasrallah, die Vasallen des Erzfeinds, sind ausgeschaltet. Kaum je befand sich das Mullah-Regime in einer grösseren Krise – und kein einziger US-Soldat musste dafür sein Leben opfern.

Biden überliess die Drecksarbeit dem von ihm verachteten Netanyahu. Der muss sich jetzt allseits für die 42’000 Todesopfer in Gaza rechtfertigen, während sich Publikumsliebling Biden gemütlich auf den Ruhestand vorbereitet. Er lieferte dem Judenstaat stets genügend Unterstützung, um seine militärischen Ziele zu erreichen. Und kritisierte Jerusalem öffentlich so hart, wie es die Diplomatie gerade noch zulässt.

Ebenso berechnend geht der Alte aus Washington im Ukraine-Krieg vor: Selenski erhält von Biden jeweils so viele Waffen wie notwendig, um Russland standzuhalten. Und so wenig wie möglich, um den Krieg im regionalen Rahmen zu halten. Die geopolitischen Risiken wälzte der eiskalte Stratege Biden grinsend auf Europa ab.

Mit Kamala Harris und Donald Trump haben die USA nun die Wahl zwischen Pest und Cholera: Sie wird die Staatsverschuldung in die Höhe treiben, er internationale Allianzen sprengen. Biden lächelt derweil cool hinter seiner Fliegerbrille hervor. Und ist gewiss der Überzeugung, dass Gingrich recht hatte.

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