Die stümperhaft abgeschnittene Ohrmuschel ist schon leicht verwest, die Blutreste sind verkrustet. Wegen eines Pöstlerstreiks in Italien landet der Brief mit dem makabren Inhalt erst am 10. November 1973, mit vier Wochen Verspätung, auf der Redaktion der römischen Tageszeitung «Il Messaggero».
«Abbiamo ricevuto l’orecchio di Paul Getty» – «Wir haben Paul Gettys Ohr erhalten», titelt das Massenblatt Tage später.
Die Entführung des Enkels des damals reichsten Menschen der Welt – des US-Milliardärs und Öl-Tycoons J. Paul Getty (1892–1976) – macht 1973 weltweit Schlagzeilen: Am 10. Juli wird der Teenager auf offener Strasse mitten in Roms Altstadt gekidnappt. Erst am 15. Dezember kommt er frei – verstümmelt und abgemagert greift ihn die Polizei an einer Autobahnraststätte zwischen Rom und Neapel auf. Der knausrige Grossvater hat das Lösegeld in Millionenhöhe erst gezahlt, nachdem die Mafia gedroht hatte, John Paul Getty III «in kleinen Stücken» der Familie zurückzusenden.
Was damals Papparazzi auf Trab hielt, versetzt heute Buchautorinnen, Filmregisseure und TV-Produzenten in Bewegung: Am 5. Februar veröffentlicht der Weissbooks-Verlag das Buch «Kidnapping Paul» von Gisela Getty (68), die deutsche Autorin ist die damalige Freundin und spätere Ehefrau des Verschleppten; am 15. Februar bringt der britische Meisterregisseur Ridley Scott (80, «Blade Runner») mit «All the Money in the World» seine Sicht des Kriminalfalls in die Kinos; und ab 25. März beginnt der US-Sender FX Network mit der Ausstrahlung des Zehnteilers «Trust». Regie führt der englische Oscar-Preisträger Danny Boyle (61, «Slumdog Millionaire»).
Horror, High Society, Sex and Crime
Getty auf allen Kanälen. 45 Jahre nach der Tat hat der Fall nichts vom Sensationsgehalt verloren. Da sind die bildhübschen deutschen Zwillingsfrauen, die mit Getty junior durch Roms Untergrund tingeln, und da ist die ruchlose kalabrische Mafia ’Ndrangheta, die den reichen Sprössling entführt. Doch es ist weit mehr als Sex and Crime drin, was allein schon eine schmissige Boulevardstory hergäbe.
Hinzu kommen Einblicke in die High Society mit dem schwerreichen Patron, dessen Vermögen sich bereits 1966 auf 1,6 Milliarden Dollar beläuft und der in Los Angeles eine gigantische, antike Villa nachbauen lässt. Abgeschmeckt wird der Plot mit einer Familienfehde. Die Mutter des Entführungsopfers hat sich zuvor vom Kindsvater getrennt und streitet sich jetzt mit dem Getty-Clan um das Sorgerecht. Und zum Schluss gibt es einen Schuss Horror mit dem abgeschnittenen rechten Ohr. Fertig ist das reichhaltige Menü.
Über allem schwebt ein geheimnisvoller Duft. Selbst Gisela Getty, die knapp 20 Jahre mit John Paul Getty III (1956–2011) verheiratet war und mit ihm den Sohn Balthazar (43) grosszog, schreibt in ihrem Erinnerungsbuch «Kidnapping Paul»: «Auch heute weiss ich nicht, was in jenen Monaten der Entführung geschehen ist. Paul schwieg darüber. Er hatte es ihnen versprochen und hielt sich daran.» Das eröffnet der Fantasie Tür und Tor.
So hat jeder aus dem Mix das genommen, was zu seiner Geschichte passt. Gisela Getty schreibt mit ihrer letztes Jahr verstorbenen Zwillingsschwester Jutta Winkelmann persönliche Memoiren und bietet mit Originaldokumenten eine nahe Aussensicht auf die Ereignisse. Ganz anders Ridley Scott: Er fokussiert mitten auf die Kriminalgeschichte, blendet alles Unnötige aus und liefert einen rasanten Actionfilm mit einigen dazugedichteten Volten. Und Danny Boyle bietet mit seinem TV-Zehnteiler ein episches Sittengemälde über den legendären Getty-Clan und lotet beide Bedeutungen des Serien-Titels «Trust» aus: das Kartell und das Vertrauen (in die Familie).
Der «goldene Hippie» und die «Gemelle del Momento»
Das Vertrauen ins Familienkartell wird arg strapaziert, wie ein in «Kidnapping Paul» abgedruckter Brief zeigt, den der Entführte seinen Eltern geschrieben hat: «Liebe Mutter, lieber Vater, ich wünsche mir zu leben und habe grosse Angst zu sterben. Ihr habt mich auf diese Welt gebracht, von euch habe ich diesen Namen, und der Grund, warum ich jetzt in dieser Situation bin, ist, weil ich diesen Namen trage. Ich glaube, es ist eure Pflicht, mich aus dieser Situation zu befreien.»
Am 4. November 1956 in Los Angeles zur Welt gekommen, lebt John Paul Getty nach der Scheidung der Eltern mit seinen drei jüngeren Geschwistern bei Mutter Gail Harris in Rom. Bereits mit 16 zieht der sommersprossige Rotschopf mit den blauen Augen von zu Hause aus und bezieht in Roms Szeneviertel Trastevere eine Kellerwohnung. Die Unterwelt – die Malavita – geht bei ihm rund um die Uhr ein und aus. Der «goldene Hippie», wie ihn die Boulevardpresse nennt, feiert als Künstler wilde Drogenexzesse und heisse Partys. Dabei lichtet ihn die Presse immer wieder zusammen mit den deutschen Zwillingsschwestern Gisela und Jutta ab, die «Gemelle del Momento» – It-Girls würde man heute wohl sagen.
Die drei machen zu dieser Zeit in der Ewigen Stadt dem Trevi-Brunnen als meistfotografiertem Sujet ernsthafte Konkurrenz.«Paul teilt seine Zuneigung zwischen mir und Jutta», schreibt Gisela Getty in ihrem Buch. «Ich weiss, dass meiner Schwester an Paul nicht besonders viel liegt, während ich rasend verliebt bin.» Die beiden werden ein Paar und schmieden immer mal wieder Pläne, den Öl-Tycoon anzuzapfen, um mit dem Geld ein unbeschwertes Leben führen zu können. «Wir überzeugen uns gegenseitig von Sinn und Zweck einer vorgetäuschten Entführung.»
Kevin Spacey kurzerhand aus dem Film rausgeschnitten
Am 10. Juli 1973, nachts um drei Uhr, schlägt dann die Mafia auf der Piazza Farnese zu und zerrt John Paul Getty III nach einem Discobesuch in ein Auto. Seine Hilfeschreie bleiben ungehört. Die Schwestern wissen, dass das nicht so geplant war, und sind ausser sich. Anders das Getty-Oberhaupt. Der Grossvater verdächtigt den Nachwuchs, an seinen Geldsäckel zu wollen, und sagt: «Ich habe 14 Enkelkinder. Wenn ich jetzt auch nur einen Penny zahle, werde ich bald 14 entführte Enkel haben.»
In «All the Money in the World» spielt der Kanadier Christopher Plummer (88, «A Beautiful Mind») die Rolle des geizigen Griesgrams – eine Hauruckübung von nicht einmal zwei Wochen. Denn Ridley Scott hat im letzten November beschlossen, die Filmauftritte des Patrons mit Plummer an den Originalschauplätzen nachzudrehen – nachdem gegen den ursprünglichen Darsteller Kevin Spacey (58) Vorwürfe wegen sexueller Belästigung publik wurden. Spacey hat man kurzerhand aus dem Film geschnitten.
Ironie des Schicksals: Christopher Plummer ist mit seinem Feuerwehreinsatz nun für einen Oscar als bester Nebendarsteller nominiert.
Kino-Spielfilm «All the Money in the World» von Ridley Scott mit Mark Wahlberg und Christopher Plummer, ab 15. Februar im Kino
Zehnteilige Fernseh-Serie «Trust» von Danny Boyle mit Hilary Swank und Donald Sutherland,ab 25. März auf FX Network
Erzählendes Sachbuch «Kidnapping Paul» von Gisela Getty und Jutta Winkelmann im Weissbooks-Verlag, ab 5. Februar im Handel