Artur Jorge, das grösste Schweizer Trainer-Missverständnis
Der Schnauz wird 70

Er rasiert vor der EM ’96 die Publikumslieblinge Sutter und Knup. Und muss dafür Haare lassen. Der portugiesische Schnauzer Artur Jorge wird heute 70.
Publiziert: 12.02.2016 um 21:24 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 00:44 Uhr
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So titelt BLICK am 29. Mai 1996.
Max Kern

Keine BLICK-Schlagzeile sorgte in den letzten 20 Jahren für so viel Wirbel wie die vom 29. Mai 1996. «Jetzt spinnt er!», steht in fetten Lettern auf Seite 1. Gemeint ist der Herr mit dem markanten Schnauz, der daneben abgebildet ist: Artur Jorge, damals im fünften Monat Coach der Schweizer Fussball-Nati.

Weshalb soll der Portugiese nicht alle Tassen im Schrank haben?

Der Tag zuvor. Am Adolf-Jöhr-Weg am Zürichberg, dort, wo heute der Fifa-Hauptsitz steht, lädt der SFV zur Medienkonferenz. Jorge soll verkünden, welche 22 Spieler zur EM ’96 nach England mitfahren. Er beginnt seine kurze Rede mit dem Satz: «Nicht mit dabei sind die Spieler Zuberbühler, Ceccaroni, Walker, Sutter und Knup.»

Ein Raunen geht durch den Saal. Ausgerechnet die beiden Bundesliga-Söldner Alain Sutter und Adrian Knup, zwei Team-Stützen, die zwei Jahre zuvor an der WM in den USA Leistungsträger waren, werden vom eigenwilligen Portugiesen aussortiert.

Im Sportteil titelt BLICK: «Wahnsinn! In 10 Sekunden waren die WM-Helden Sutter und Knup abserviert.» Empörte Leser schreiben: «Das ist der grösste Skandal aller Zeiten.» Der heutige TV-Analytiker Sutter sagt: «Eine Frechheit, wie meine Leistungen schlechtgemacht werden.» Knup, heute Vize-Präsident des FC Basel: «Ich spiele nie mehr unter Jorge!»

Die grosse Frage damals und heute: Handelt Jorge auf sanften Druck des Verbandes? Ist es die Retourkutsche für Sutters «Stop it Chirac»-Plakat, das er im Herbst 1995 beim Länderspiel in Schweden gegen Frankreichs Atomversuche ausrollte? Und ein Denkzettel für Knup, der den Atom-Protest ebenfalls unterstützte und sich daneben auch für die Spielergewerkschaft «Profoot» starkgemacht hat? Jorge behauptet: «Es entschieden nur sportliche Gründe.»

Handy mit Fernbedienung verwechseln? Kann passieren

Die neidische Konkurrenz wirft den BLICK-Machern damals vor, sie hätten die Schlagzeile «Jetzt spinnt er!» bewusst gewählt, um damit auf Jorges Hirn-Operation ­– er musste sich eineinhalb Jahre zuvor einen Tumor entfernen lassen ­– hinzuweisen. Hirnverbrannte Argumente! Die BLICK-Auflage schnellt in die Höhe: Bis zu 30 000 Zeitungen werden täglich mehr gekauft.

Bevor Jorge im Januar 1996 als Nachfolger von Volks-Held Roy Hodgson, der ein Angebot von Inter Mailand annahm, vorgestellt wird, muss er sich wegen seiner gesundheitlichen Probleme einer eingehenden medizinischen Untersuchung stellen. Alles im grünen Bereich, heisst es beim Verband.

Schon bald aber stellen Jorges Mitarbeiter fest, dass ihr Boss Probleme hat. Vor allem unter Stress. Jorge vergisst Termine, findet Dokumente nicht mehr, verhaspelt sich in Diskussionen, spricht seine Nati-Stars mit den Namen von Spielern seiner Ex-Klubs an. In England redet er bei taktischen Anweisungen von Alain Sutter, dem Spieler, den er ausgebootet hat. Vor dem EM-Spiel gegen Schottland spricht er in der Theoriesitzung ständig von den Belgiern.

Und verbrieft ist auch eine Szene, die sich in der Nähe von Birmingham in Jorges Hotelzimmer abspielt: Captain Ciri Sforza und Alain Geiger versuchen, den Coach von seiner taktischen Ausrichtung abzubringen. Da klingelt Jorges Handy. Er schnappt sich die TV-Fernbedienung und ruft: «Hallo!» Keiner antwortet.

Mit Jorge gibts im Eröffnungsspiel dank dem Penalty-Tor des heutigen BLICK-­Kolumnisten Kubilay Türkyil­maz ein 1:1. Nach Nieder­lagen gegen Holland (0:2) und Schottland (0:1) ist die EM für Jorge und die Schweiz vorbei.

Im SonntagsBlick spricht Captain Ciri Sforza Klartext: «Jorge hat in einem halben Jahr viel kaputt gemacht.»

Faschisten! Jorge zieht Journalisten in den Dreck

Am 31. Juli geht der Portugiese. Den letzten Poker verliert er. Die 1 Million Abfindung, die er bei einer Entlassung kassieren würde, kann der Verband für sich behalten. Jorge wird portugiesischer Nati-Coach.

In einem seiner seltenen Interviews rechtfertigt Jorge in der portugiesischen Zeitung «Expresso» sein Scheitern in der Schweiz: «Es war schon eine nur durchschnittliche Mannschaft, die sich für die EM qualifiziert hatte.» Faschisten nennt er darin jene Journalisten, die ihn frühzeitig kritisierten. Und: «Ich wurde das Opfer einer Hetzkampagne. Hier fühle ich mich wohler als in der Schweiz. Hier habe ich meine Museen, und ich bin vor allem wieder bei meiner Familie.»

Doch schon ab 1997 tingelt Jorge wieder durch die Welt. Spanien, Holland, Frankreich, Saudi-Arabien, Portugal, Russland und Kamerun. Nach einer siebenjährigen Auszeit stand Jorge von 2014 bis Herbst 2015 in Algerien an der Seitenlinie.

Im 544 Seiten starken Nachschlagewerk «Das goldene Buch des Schweizer Fussballs», das letzten Herbst im Auftrag des SFV zum 750. Schweizer Länderspiel erschien, ist Jorge nur eine Randnotiz: «Ja, der Portugiese war wohl ein grosses Missverständnis.»

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