Alt Bundesrätin Calmy-Rey bei der Auns
«Die Schweiz betreibt eine ängstliche 
Europapolitik»

Die SP-Politikerin geht mit dem Bundesrat hart ins Gericht. Ausgerechnet bei den erklärten EU-Gegnern.
Publiziert: 05.05.2019 um 21:48 Uhr
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Auns-Gründer Christoph Blocher begrüsst alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in Bern.
Foto: Peter Gerber
Simon Marti
Simon MartiRedaktor SonntagsBlick

Viel zu gewinnen, gibt es für eine Sozialdemokratin bei der Aktion für ein unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) kaum. Schon gar nicht, wenn die Europapolitik zur Sprache kommt. Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (73, SP) reiste gestern dennoch mit einer gewissen Vorfreude nach Bern zur jährlichen Mitgliederversammlung der Auns.

Denn die ehemalige Magistratin kann durchaus mit einer gewissen Sympathie bei der stramm rechten Organisation rechnen. Dies ist ihrer Kritik am ausgehandelten institu­tionellen Rahmenabkommen mit der EU geschuldet: Der Text hat in den letzten Monaten eine «innenpolitische Konsultation» durchlaufen, an deren Ende der Vertrag allerdings kaum bessere Chancen hat, eine Mehrheit zu finden.

«Eine Schicksalsfrage für die Schweiz»

Dass Calmy-Rey mit dem Ergebnis ihre liebe Mühe hat, führte sie bereits im vergangenen Sommer im SonntagsBlick aus. Sie nutzte gestern erneut die Gelegenheit, den europapolitischen Kurs der Landesregierung zu sezieren: «Der Bundesrat hat sich nicht zum Abkommen geäussert», so Calmy-Rey. «Er hat eine Vernehmlassung in Gang gesetzt, ohne seine Einschätzung zu geben, als ob er sich davor fürchten würde, Stellung zu beziehen.» Es handle sich dabei aber nicht um ein sekundäres Anliegen, «sondern um eine Schicksalsfrage für die Schweiz; das Fehlen einer politischen Führung ist daher mehr als beunruhigend».

Zwar lobte die alt Bundesrätin die Schweizer Diplomaten – diese «können viel», hielt sie fest. So viel diplomatisches Fingerspitzengefühl musste dann doch sein: Der Chef­unterhändler von Aussenminister Ignazio Cassis (58, FDP) heisst Roberto Balzaretti (54) – und der diente Calmy-Rey einst als Kabinettschef, später dann als Generalsekretär des Aussendepartements.

Im Übrigen betonte Calmy-Rey jedoch: «Die Schweiz betreibt derzeit eine widersprüchliche und ängstliche Europapolitik.» Es sei von Anfang an klar gewesen, dass etwa das EU-Recht für ausländische Arbeitnehmer in der Schweiz oder die sogenannte Unionsbürgerrichtlinie innenpolitische Probleme bereiten würden. Aber man habe nicht versucht, einen inneren Konsens zu suchen.

Sympathien für einen EU-Beitritt

Harte Worte der Genferin. Dass eine ehemalige Chefin des Aussendepartements ihrem Nachfolger derart deutlich in die Parade fährt, ist mehr als ungewöhnlich. Während sich Auns-Präsident und SVP-Nationalrat Lukas Reimann (36, SG) über Calmy-Reys Bundesrats-Schelte sichtlich freute, blieb FDP-Aussenpolitiker Hans-Peter Portmann (56), der im Anschluss ein Po­diumsgespräch bestritt, ratlos zurück. «Ehrlich gesagt, empfinde ich Frau Calmy-Reys Argumentationsspagat als ziemlich wirr», urteilt Portmann. «Sie sagt, der Bundesrat mache einen schlechten Job.» Gleichzeitig signalisiere Calmy-Rey Sympathien für einen EU-Beitritt und wäre dann sogar bereit, alle EU-Gesetze zu übernehmen, so der Zürcher.

Tatsächlich empfiehlt die Aussenministerin ausser Dienst eine Strategie, mit dürftigen Erfolgsaussichten. Sie hält wenig davon, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) bei Konflikten zwischen der Schweiz und Brüssel das letzte Wort haben könnte.

«Der vorgesehene Mechanismus für die Beilegung von Streitigkeiten ist nicht geeignet, eine gewisse Rechtssicherheit zu gewährleisten». Genauer: Calmy-Rey fürchtet, dass die flankierenden Massnahmen ausgehebelt und Schweizer Löhne unter Druck geraten könnten. Die im Abkommen skizzierte Streitbeilegung dürfe demnach nur dann akzeptiert werden, wenn die Eidgenossenschaft auch in Zukunft den Arbeitnehmerschutz in Eigenregie gestalten kann. Eine Konzession, die die EU kaum gewähren wird.

Damit liegt Calmy-Rey genau auf Linie der Gewerkschaften und vertritt damit eine ­Position, die ebenfalls wenig Aussicht auf Erfolg verspricht – weder in Brüssel, noch in Bern. 

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