E. T. trifft auf eine Familie – und der Vater verschwindet. Er kommt nie mehr zurück, denn er ist gestorben. Und E. T. ist schuld am Tod des Vaters. Was wie eine Krimiversion des Spielberg-Films «E. T. – der Ausserirdische» klingt, ist das irdische Schicksal einer italienisch-schweizerischen Familie, das Schicksal der Familie del Buono-Zumbühl aus Zürich.
Jetzt hat die Architektin und Schriftstellerin Zora del Buono (61, «Die Marschallin») den Tod ihres Vaters in ihrem neuen, am Donnerstag erschienenen Buch «Seinetwegen» aufgearbeitet: Sie ist knapp acht Monate alt, als er im August 1963 auf dem Weg von Davos GR nach Zürich bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt – Genickbruch nach heftigem Zusammenprall zweier Autos.
«Vater starb nach einer Frontalkollision», schreibt del Buono in «Seinetwegen». «E. T. überholte bei durchgezogener Mittellinie in seinem grossen, roten Chevrolet in einer Kurve ein Pferdegespann und knallte in den VW Käfer von Onkel und Vater.» E. T. kommt mit einer Hirnerschütterung und ein paar Schnittwunden davon, der Onkel am Steuer erleidet einen Oberschenkelbruch, Vater als Beifahrer ist sofort hirntot.
Fehlende Erinnerung an Vater, fortschreitende Demenz der Mutter
Überführt in den Kantonsspital Zürich, liegt er dort noch einige Tage im Koma, bevor er am 18. August 1963 stirbt. Ausgerechnet im Kantonsspital, wo Manfredi Svevo del Buono (1930–1963) Oberarzt am Röntgendiagnostischen Zentralinstitut ist und wo er die Röntgenassistentin Zumbühl kennengelernt hat. Sie heirateten und bekamen am 21. Dezember 1962 Tochter Zora.
Fehlende Erinnerung an Vater und fortschreitende Demenz der Mutter haben Zora del Buono nun dazu bewogen, dieses Buch zu veröffentlichen. «Die Traurigkeit, dass ich mit Mutter nicht mehr sprechen kann, hat einen leeren Raum eröffnet», sagt Zora del Buono gegenüber Blick. «Vielleicht wollte ich den füllen.» Das Schweigen, das sie und ihre Mutter jahrzehntelang gepflegt hätten, finde so ein Ende.
«Wir sprachen kaum über den Vater», so del Buono in «Seinetwegen». «Das lag nicht an ihr, sondern an mir. Ich konnte den Schmerz in ihrem Gesicht nicht ertragen, wenn sie von ihm sprach.» Statt eines mündlichen Dialogs ist ein schriftlicher Monolog für eine grosse Leserschaft entstanden: Die Autorin erzählt uns von ihrer Suche nach E. T. in Altersheimen und vom Finden des Vaters in Ablagen der Mutter und Akten zum Gerichtsverfahren gegen E. T.
«Seinetwegen» hat keine Gattungsbezeichnung, ist weder Roman noch Sachbuch. «Seinetwegen» ist einer der autofiktionalen Texte, wie wir sie von der französischen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux (83, «Eine Frau»), der österreichischen Schriftstellerin Monika Helfer (76, «Die Bagage») oder dem Schweizer Wunderkind Kim de l’Horizon (32, «Blutbuch») kennen.
«Es stimmt so viel wie möglich, geändert wurde so wenig wie nötig», sagt del Buono zu ihrem Buch. Es gebe Sätze, die fangen wahr an und enden als Erzählung. «Das ist das, was autofiktionales Erzählen doch ausmacht», so del Buono weiter. «Man versucht das Gefühl zu beschreiben, die Stimmung, die etwas ausgelöst hat, und da wird dann halt mal aus Regen Sonnenschein und aus einem Hund eine Katz.»
«Was war eigentlich Vaters letzter gesprochener Satz?»
Bei Personen, die nicht zu ihrem Familienkreis angehören, hat die Autorin Namen, Ortschaften und Daten zu deren Schutz abgeändert. Und auch den Unfallort belässt del Buono im Ungenauen, weil er für sie privat sei. «Es geht ja in dem Buch nicht um einen Sensationsroman, sondern um das, was Autounfälle bei Leuten auslösen», sagt sie. «Sie werden sehr alleine gelassen damit.»
Del Buono stellt sich im Buch viele Fragen, die beim Lesen zum Nachdenken anregen: Ob der Unfallfahrer «jemals versucht hat herauszufinden, wie Mutters und mein Leben verlief?». «Wer sagt denn, dass E. T. ein langes Leben vergönnt war? Vielleicht ist er jung gestorben? Vielleicht sogar jünger als mein Vater?» «Was war eigentlich Vaters letzter gesprochener Satz?»
Und immer mal wieder die bange Frage «was nun?», wenn sich eine vermeintliche Spur zu E. T. ergibt. Soll sie ihn wirklich treffen, mit ihm reden, und wenn ja: worüber? Und dann die Reaktion, wenn die Spur im Sand verläuft: «Tiefe Enttäuschung. Kleine Erleichterung. Alles in einem, in Sekundenschnelle.» Hier offenbart del Buono Wankelmut und zeigt sich von ihrer verletzlichen Seite.
«Seinetwegen» ist aber weit mehr als eine Selbstbespiegelung wie andere autofiktionale Texte. Das Buch ist ein spannender Krimi über die Suche nach einem Täter (sie nennt ihn «Töter»), ein historisches Dokument der 1960er-Jahre und ein anrührendes Stück zum Umgang mit betagten Elternteilen. Stilistisch wechselt del Buono dabei gekonnt zwischen Erzählung, Gespräch, Lexikoneintrag und Listicle, wodurch sie für Rhythmuswechsel sorgt.
«Weil das Buch ja sehr viele Themen anschneidet, haben mir Leute schon wegen ihrer Erlebnisse mit VW-Käfern geschrieben», sagt del Buono. «Und natürlich über ihre Erfahrung mit ihren an Demenz erkrankten Eltern.» Man könne an vielen Stellen andocken. «Ich gehe davon aus, dass ich noch viele solche Erzählungen zu hören bekomme», sagt del Buono abschliessend.
Zora del Buono, «Seinetwegen», C. H. Beck