Auf einen Blick
- Bräuche und Rituale lassen sich christlich und weltlich interpretieren
- Traditionen wandeln sich schneller durch globale Vernetzung, und neue Bräuche entstehen
- Junge Paare sollten sich vor der Familiengründung über Weihnachten unterhalten
Herr von Kursell, Weihnachten ist Tradition und Nostalgie, Kitsch und Kommerz, religiös und weltlich. Hat das Fest überhaupt einen gemeinsamen Nenner, auf den sich alle Menschen einigen können?
Gregor von Kursell: Fest der Liebe und der Familie: Das trifft es gut. Man kann ja alle Bräuche, Ideen und Rituale christlich oder weltlich deuten.
Wie, zum Beispiel?
Man kann sagen: Fest der Liebe, im Sinne der christlichen Nächstenliebe. Oder man kann sagen, im Sinne der Liebe zwischen den Menschen untereinander. Dasselbe mit der Familie: die Heilige Familie oder unsere eigene. Die weltlichen und die christlichen Interpretationen von Weihnachten müssen sich nicht beissen.
Viele Menschen halten ihre Art zu feiern für die einzig richtige. Woher kommt diese Engstirnigkeit?
An Weihnachten sind hohe Emotionen im Spiel, weil das Fest so wichtig für die Menschen ist. Man streitet sich, was man an Heiligabend isst, welchen Film man schaut. An diesem Tag soll einfach alles so sein, wie ich es mir vorstelle. Das hängt mit meiner Vergangenheit zusammen. Ich will reproduzieren, was früher war. Und wenn es nicht so ist, fühle ich mich gestört und irritiert.
Das führt wiederum zu Konflikten, die nicht zur weihnachtlichen Stimmung passen.
Junge Paare werden sich kaum über Weihnachten unterhalten, wenn sie eine Familie gründen wollen. Aber das wäre durchaus nicht unwichtig. Einander zu fragen: Wie feierst du, kommt die Bescherung vor oder nach dem Essen?
Und wenn die Vorstellungen unterschiedlich sind?
Einer muss dem Frieden zuliebe nachgeben.
Bei uns zu Hause schmückt ein Engel aus Papier unseren Weihnachtsbaum, den mein Mann im Kindergarten gebastelt hat. Bestätigt dieses Beispiel, was Sie die «emotionale Rückwärtsgewandtheit des Festes» nennen?
Das ist ein schönes Beispiel, dass man Dinge liebt, die eine Geschichte haben, und sagt, das habe ich schon als Kind so gemacht. Für Kinder ist Weihnachten ein ideales Fest. Erst später merken sie, dass es auch Probleme geben kann, in der Familie, anderswo. Mit der Enttäuschung kommt, dass man immer das ideale Weihnachten in der Vergangenheit sucht. Es gibt diese weit verbreitete Vorstellung: Früher war es noch richtig, und heute ist es nicht mehr so, wie es sein soll.
Darstellungen von Weihnachten haben häufig auch etwas Altmodisches.
Es gibt nur selten bewusste Stilbrüche, dass dann der Weihnachtsmann mit dem Quadrokopter kommt oder so etwas. Er reist meist in einem Schlitten, auf Adventskalendern bildet man alte Städte ab, Fachwerkhäuser oder gotische Bauten. Selbst Christmas-Pop bemüht sich, traditionelle Elemente wie Glockenklang oder Kinderchöre aufzunehmen.
Gregor von Kursell (59) studierte Geschichte und arbeitet heute als Mediensprecher in der Industrie. Der ausgebildete Journalist schrieb ab 2019 Kolumnen über Weihnachten in deutschen Tageszeitungen, in denen er historische Hintergründe zum Weihnachtsfest erläuterte. Nun ist sein Weihnachtsbuch «Ein Fest mit vielen Gesichtern» erschienen. Er hält das ganze Jahr hindurch Ausschau nach Weihnachtsgeschenken. In der Weihnachtszeit ist für ihn Musik sehr wichtig, er singt auch selbst. Der Vater einer Tochter lebt in Bayern.
Gregor von Kursell (59) studierte Geschichte und arbeitet heute als Mediensprecher in der Industrie. Der ausgebildete Journalist schrieb ab 2019 Kolumnen über Weihnachten in deutschen Tageszeitungen, in denen er historische Hintergründe zum Weihnachtsfest erläuterte. Nun ist sein Weihnachtsbuch «Ein Fest mit vielen Gesichtern» erschienen. Er hält das ganze Jahr hindurch Ausschau nach Weihnachtsgeschenken. In der Weihnachtszeit ist für ihn Musik sehr wichtig, er singt auch selbst. Der Vater einer Tochter lebt in Bayern.
Wir verklären also das Früher. Manche behaupten, früher hätte es keinen Kommerz rund um Weihnachten gegeben.
Das stimmt natürlich nicht. Diese Debatte ist uralt.
Wie alt sind denn die Klagen über den Weihnachtskommerz?
Das hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. In Amerika gab es die Klagen schon Mitte des 19. Jahrhunderts; die Wirtschaft hob früher ab als in Europa, und es gab zum Beispiel schon viel früher Kaufhäuser, in denen Weihnachtslandschaften aufgebaut wurden.
Und in Europa?
In Europa ging das etwas später los. Kriege und Wirtschaftskrisen haben das Schenken natürlich stark eingeschränkt. Teils hat man selbst gebastelt, geschnitzt und genäht für die Kinder, teils vorhandene Spielsachen erneuert. Man kann schwer verlangen, dass Kinder heute auch zufrieden sein sollen mit Dingen, die nach dem Krieg vielleicht eine schöne Gabe waren.
Ein Beispiel?
Aus dem englischsprachigen Raum nehme ich in den sozialen Medien wieder Aussagen wahr wie: Wir waren früher zufrieden mit einer Orange in der Socke, die da am Kamin hängt. Heute kann man Leuten doch keine Orange schenken. Die gibt es überall, das ist nichts Besonderes. Da zu sagen: Du bist aber ganz schön gierig, du willst mehr als eine Orange – das ist eigentlich Heuchelei.
Kinder sind heute aber materiell verwöhnter als je zuvor.
Aber nicht weil sie schlechter sind als die Kinder von früher, sondern weil einfach mehr geboten ist und wir in einer Überflussgesellschaft leben.
Den weihnachtlichen Konsumrausch hat gewissermassen Reformator Martin Luther (1483–1546) entfacht: Ihm ist es zu verdanken, dass wir Kindern an Weihnachten Geschenke machen.
Ganz so ist das nicht. Die Geschenke kamen früher am Nikolaustag. Und Luther wollte den Nikolaus abschaffen. Denn er hatte ja mit der Institution der Heiligen ein Problem. Für ihn brauchten Menschen keine Vermittler, um sich an Gott zu wenden. Er verlegte also die Bescherung vom 6. auf den 24. Dezember. Kinder sollten sich an dem Tag über Geschenke freuen, an dem Gott den Menschen seinen Sohn geschenkt hatte.
Wie stehen Sie dazu, dass sich religiöse Aspekte aus dem Weihnachtsfest zunehmend verabschieden?
Die gesamte Gesellschaft entwickelt sich so. Ich masse mir nicht an, das zu beurteilen.
Eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die sonst nie in die Kirche gehen, besuchen an Weihnachten den Gottesdienst.
Viele tun dies aus Tradition oder aus dem Bedürfnis nach Spiritualität oder weil sie dort die Menschen aus dem Dorf antreffen. Manche Geistliche klagen, dass sich viele nicht benehmen, dass sie mit dem Handy herumfilmen, sich unterhalten oder angetrunken sind.
Auch in früheren Jahrhunderten waren Menschen in der Weihnachtsmesse betrunken.
Das ist zum Beispiel aus der Zeit der Aufklärung überliefert. Im 18. Jahrhundert wurde die nächtliche Christmette verboten oder auf den Nachmittag geschoben. Damals gab es das häusliche Weihnachtsfest noch nicht, die Menschen glühten daher im Wirtshaus vor – und benahmen sich teils dann in der Messe vulgär.
Leuchtende Schlitten, kletternde Weihnachtsmänner, blinkende Eiszapfen – der weihnachtliche Deko-Kitsch drängt die Frage auf: Warum werfen wir in der Weihnachtszeit ästhetische Prinzipien über Bord?
Offenbar haben Menschen ein Bedürfnis danach, mal über die Stränge zu schlagen; sie haben ein Bedürfnis nach kitschigen, dudelnden, leuchtenden, blinkenden Dingen. Oder nach betont altmodischem Schmuck. Sie wollen aus dem Alltagstrott aussteigen, auch ästhetisch. Sich ein Märchenland bauen. Wem der Kitsch nicht gefällt, der soll in die andere Richtung gucken.
Sie schildern in Ihrem Buch, dass es in den USA Literaten, in Europa dem Hochadel zuzuschreiben war, dass sich der Baum in der Stube im 19. Jahrhundert als weltweit bekanntes Symbol des Festes etablierte. In früheren Jahrhunderten dauerte es lange, bis sich Bräuche verbreiteten. Heute ist weltweite Instant-Öffentlichkeit kein Problem mehr: Wandeln sich Weihnachtstraditionen damit rascher?
Auf jeden Fall. Was früher Jahre oder Jahrzehnte dauerte, braucht heute ein, zwei Jahre. Bräuche können aber auch wieder verschwinden.
Ein Beispiel für einen neuen Brauch?
Der Elf on the Shelf. Das ist so eine schelmisch lachende Wichtelfigur, die mir etwas albern vorkommt. Die sitzt eben im Regal, wie der Name sagt. Das Narrativ dazu lautet, der Wichtel fliege jede Nacht zum Nordpol und erzähle dem Weihnachtsmann, ob die Kinder im Haus gut oder schlecht waren.
Ein Spitzel.
Die Kinder werden geprägt, sich gegenüber Autoritäten wohl zu verhalten, und daran gewöhnt, dass überall einer spitzelt, sagen Kritiker. Man kann diese Seite des Brauches aber auch einfach weglassen. Interessanterweise wird das als alte Tradition verkauft, obwohl der Elf on the Shelf in Amerika erst vor ein paar Jahren entstanden ist. Er wird zusammen mit einem Buch verkauft, in dem erzählt wird, was er alles so treibt. Er ist in der Wohnung mal da, mal dort und macht auch mal Unsinn. Das ist ähnlich wie die Wichteltür, ein bei uns neuerer Brauch aus Skandinavien. Dort sieht man den Wichtel nicht, aber seine Spuren.
Es gibt immer mehr Möglichkeiten, die Adventszeit zu gestalten.
Ja, dadurch zerfasert es ein bisschen. Früher gab es nur den Adventskranz, ein paar Strohsterne in der Wohnung. Heute bietet man mehr und mehr Kreationen an und versucht, die zu vermarkten.
Es gibt also trotz Traditionsbewusstsein eine gewisse Offenheit für Neues.
Viele behaupten, Weihnachtstrends interessierten sie nicht. Das kann aber eine Täuschung sein. Menschen brauchen eben doch immer wieder mal neue Dekoration, vielleicht, weil sie eine Familie gründen oder weil etwas kaputtgegangen ist. An der Messe für Weihnachtsdekorationen in Frankfurt werden die Trends vorgestellt. Dieses Jahr sehe ich viele rot-weiss geringelte künstliche Kerzen in den Geschäften. Schon länger gibt es diese vermenschlichten Tierfiguren, vor allem Rentiere in altmodischen Fräcken, oder riesige rosa Nussknacker aus Kunststoff.
Ich gebe Ihnen ein paar Stichworte, zu denen Sie kurz Stellung nehmen, immer im Zusammenhang mit Weihnachten: Kunstfurzer.
Mein Lieblingsheld der Weihnachtszeit: Kunstfurzer Roland. Er bot einem der angesehensten und kultiviertesten Herrscherpaare Europas, Heinrich II. von England und Eleonore von Aquitanien, im Hochmittelalter mit seinen Darmwinden Unterhaltung an Weihnachten. Das hat sich aber langfristig nicht als Weihnachtstradition durchgesetzt.
Coca-Cola …
… hat Santa Claus nicht erfunden, wohl aber sein Aussehen geprägt. Für viele ist er als Werbefigur zur Weihnachtstradition geworden.
Nazis.
Nazis haben versucht, Weihnachten zu verändern. Sie wollten das Christliche austreiben und durch germanischen Hokuspokus ersetzen.
Geschlechtergerechtigkeit.
An den Frauen bleibt an Weihnachten die meiste Arbeit hängen. Sogar Theologen wie Friedrich Schleiermacher hielten fest, dass Weihnachten ein gefühlvolles Fest sei und dass sich deshalb Frauen darum kümmern müssten. Mit dem gesellschaftlichen Wandel ändert sich auch die Weihnachtsgerechtigkeit, aber langsam.
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