Juni 2021 in Kiew. In schlichten, gut ausgeleuchteten Vitrinen liegen einzelne Objekte – ein Buch, ein Pingpongschläger, ein Plüsch-Teddy. Bei jeder dieser Sachen geht es um eine Kindheit. Und auch immer den Krieg.
Der Plüsch-Teddy erzählt die Geschichte von Oleksii, einem Jungen aus der Ukraine. Er ist elf, als ihm eine Explosion zwei Finger von seiner rechten Hand reisst. Über zwei Monate liegt er im Spital. Seine Mutter schenkt ihm das Stofftier. «Immer wenn ich Schüsse hörte, rollte ich mich an die Wand neben meinem Bett und umarmte diesen Teddybären.»
Der Teddy gehört nun zur Sammlung eines einzigartigen Museums, des War Childhood Museum. Dieses widmet sich ausschliesslich den Kriegserinnerungen von Kindern und ist damit das erste weltweit. Oleksii hat ihm sein Plüschtier gespendet. Ein kurzer Text, der den Teddy begleitet, erzählt, was die beiden im Krieg erlebt haben.
Zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 30. Juli 2023 sind in der Ukraine 541 Kinder getötet und 1139 verletzt worden. Das schreibt das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR). Ähnliche Zahlen kommunizierte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft diesen August. Die tatsächlichen Zahlen liegen laut Fachpersonen wahrscheinlich weitaus höher.
Die meisten Kinder wurden durch den Einsatz von «Explosivwaffen mit weitreichender Wirkung» sowie Sprengkörpern getötet, hält der neuste Uno-Bericht «Children and Armed Conflict» vom Juni 2023 fest.
Kinder sind weiter betroffen von sexualisierter Kriegsgewalt und Entführungen, leiden unter der schlechten Gesundheitsversorgung, fehlender humanitärer Hilfe und unterbrochener Schulbildung. Angriffe auf Schulen in der Ukraine haben laut den Vereinten Nationen zugenommen.
Die Schweiz hat zwischen dem 12. März 2022 und dem 31. Juli dieses Jahres 28'172 ukrainischen Kindern Schutz gewährt, schreibt das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage. Aktuell haben rund 20'000 Minderjährige aus der Ukraine Schutzstatus S in der Schweiz (Stand 31.7.2023). Die meisten sind zwischen vier und elf Jahre alt.
Zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 30. Juli 2023 sind in der Ukraine 541 Kinder getötet und 1139 verletzt worden. Das schreibt das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR). Ähnliche Zahlen kommunizierte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft diesen August. Die tatsächlichen Zahlen liegen laut Fachpersonen wahrscheinlich weitaus höher.
Die meisten Kinder wurden durch den Einsatz von «Explosivwaffen mit weitreichender Wirkung» sowie Sprengkörpern getötet, hält der neuste Uno-Bericht «Children and Armed Conflict» vom Juni 2023 fest.
Kinder sind weiter betroffen von sexualisierter Kriegsgewalt und Entführungen, leiden unter der schlechten Gesundheitsversorgung, fehlender humanitärer Hilfe und unterbrochener Schulbildung. Angriffe auf Schulen in der Ukraine haben laut den Vereinten Nationen zugenommen.
Die Schweiz hat zwischen dem 12. März 2022 und dem 31. Juli dieses Jahres 28'172 ukrainischen Kindern Schutz gewährt, schreibt das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage. Aktuell haben rund 20'000 Minderjährige aus der Ukraine Schutzstatus S in der Schweiz (Stand 31.7.2023). Die meisten sind zwischen vier und elf Jahre alt.
«Mittlerweile haben wir die Geschichten und Objekte von 250 Kindern in der Ukraine gesammelt», erzählt Svitlana Osipchuk (37), Projektdirektorin des War Childhood Museum in der Ukraine, in einem Onlinecall.
Es begann mit einem Facebook-Post
Die Idee zum War Childhood Museum stammt aus Bosnien, von Jasminko Halilovic.
«Als die Kriege auf dem Balkan zu Ende waren, hoffte ich, dass die Zukunft Europas eine friedliche werden würde. Nun geschieht es wieder. Und es trifft wieder die Kinder», denkt der heute 35-Jährige, wenn er die Geschichten liest, die sein Team in der Ukraine gesammelt hat.
Jasminko Halilovic kennt den Krieg. Als Kind überlebte er in den 90er-Jahren die Belagerung von Sarajewo. Diese Erfahrung habe ihn und seine Generation geprägt, erzählt er in seiner Rede an einer internationalen Museumskonferenz, in der er die Entstehungsgeschichte des War Childhood Museum nachzeichnet.
2010 schreibt er einen Post auf Facebook: «Wie war eure Kindheit im Krieg?» Innert weniger Wochen antworten über 1000 Menschen, auch viele, die ihre Erinnerungen bis anhin noch nie mit jemandem geteilt haben. «Ich war überwältigt.»
Eigentlich wollte er die Antworten in einem Buch versammeln. Doch er merkte, dass dieses nicht reichen würde. Es waren die Überlebenden selbst, die ihn auf die Idee einer Ausstellung brachten: «Ich stellte fest, dass mir viele Leute Fotos von Dingen schickten, an die sie ihre Erinnerungen knüpften.»
2015 gründet Halilovic das War Childhood Museum in Sarajewo, 2017 eröffnete die erste reguläre Ausstellung. Erst spendeten bosnische Kriegskinder von damals ihre Erinnerungsstücke. Mittlerweile umfasst die Sammlung über 5000 Objekte und Geschichten, auch von Kindern aus Afghanistan, Eritrea, Syrien, dem Irak – und der Ukraine.
2014, nach der Maidan-Revolution, besucht Jasminko Halilovic zum ersten Mal Kiew, später den Donbass. Er reist entlang der damaligen Frontlinie in der Ostukraine, sieht zerstörte Klassenzimmer und wie Kinder Checkpoints durchqueren müssen, um zur Schule zu gehen. «Ich sah Dinge, die mich an meine eigene Kindheit im Krieg erinnerten.»
Kinder sind mehr als passive Kriegsopfer
2020 eröffnen er und sein erweitertes Team aus der Ukraine ein Büro in Kiew. «Wenn wir mit unseren Kolleginnen und Kolleginnen in Bosnien sprechen, reden wir über den Krieg. Ihren Krieg. Unseren Krieg», sagt Svitlana Osipchuk.
Beide, Osipchuk und Halilovic, wissen, warum es wichtig ist, Kinder vom Krieg erzählen zu lassen. Denn oft würden das Erwachsene tun – Historiker, Journalistinnen, Politiker. Die Kinder seien in deren Erzählungen meist nur passive Kriegsopfer. Aber Kinder seien resilient, kreativ, hätten eigene Gefühle und Gedanken, beeinflussten Menschen in ihrem Umfeld, seien durchaus auch handlungsfähig. Das zu zeigen, sei wichtig.
Team und Sammlung geraten unter Beschuss
Die Geschichten und Objekte zu sammeln, ist derweil riskant, und, wie Svitlana Osipchuk erzählt, seit dem 24. Februar 2022 nochmals deutlich anspruchsvoller.
«Anfang März 2022 mussten wir unser Team und auch die Sammlung evakuieren. Das war eine seltsame Erfahrung. Ein Mann, den ich nicht mal kannte, fuhr unsere Objekte über zerstörte Strassen in seinem Auto von Kiew in den Westen der Ukraine. Er war sehr mutig.»
Letztes Jahr führten Osipchuk und ihr Team keine Interviews durch. «Viele Kinder waren auf der Flucht. Sie waren nervös, ihre Eltern auch. Das war kein guter Zeitpunkt, um mit Fragen auf sie zuzugehen.»
Die Ausgangslage in Bosnien war anders. Dort teilten bereits Erwachsene ihre Geschichten, rund zwei Jahrzehnte nach Ende des Kriegs. In der Ukraine dagegen dauert der Krieg an, viele Kinder befinden sich mittendrin.
Die Arbeit mit Kindern ist heikel
«Man muss also vorsichtig sein, welche Fragen man den Kindern stellt», sagt Osipchuk. Sie und ihr Team haben ihre Fragebögen angepasst. Fragen zur Schule etwa können heikel sein. «Was, wenn die Lehrerin eines Kindes kürzlich getötet wurde?» Und auch die Forschenden selbst müssten sich schützen. Bestimmte Fragen zu stellen und Antworten zu hören, könne für sie ebenso retraumatisierend sein, «gerade für jene im Team, die selbst Eltern sind».
Seit diesem Frühjahr nun sind die Sammlung und ein Teil des Teams zurück in Kiew. Vor einigen Wochen postete Jasminko Halilovic auf Facebook ein Foto einer jungen Frau, die mit ihrem Laptop in einer U-Bahnstation sitzt. Er sei stolz auf sein Team in der Ukraine, das trotz Luftangriffen weiterarbeitet, schreibt er dazu. «Dieser Mai war ein lauter Monat», sagt Svitlana Osipchuk zum Foto. «Nun ist es etwas besser.»
Verschobene Normalität
Einige aus ihrem Team sind noch immer im Ausland und arbeiten von dort aus weiter. Denn auch viele Kinder mussten die Ukraine verlassen. Per Post oder auf anderen Wegen finden die gespendeten Objekte aus dem Ausland dann den Weg in die Ukraine, wo das Team diese zusammen mit den Geschichten erfasst, nummeriert und archiviert. Das klingt nach einem Stück Normalität für die Arbeit eines Museumsteams.
Doch die Normalität, sagt Svitlana Osipchuk, habe sich spätestens seit dem grossflächigen Angriffskrieg dramatisch verschoben. Das wirke sich auch darauf aus, wie Erwachsene in der Ukraine auf die Erlebnisse der Kinder blicken.
«Oft treffe ich Eltern, die denken, ihr Kind würde nur eine ‹Kriegskindheit› durchleben, wenn es Schiessereien und brennende Panzer gesehen hat.» Für mehrere Tage in den Keller zu flüchten oder belagert zu werden, zählten einige nicht dazu. Kindergärten würden mittlerweile in einem Atemzug dafür werben, gute Englischlehrer, gutes Frühstück und gute Luftschutzkeller anzubieten. «Die Leute vergleichen sich oft mit jenen, die noch mehr leiden. Wir müssen uns daran erinnern, dass das alles nicht normal ist. Das ist wichtig, um zu heilen.»
Ein Ort, um zu heilen
Das Museum möchte dazu beitragen, sich mit Traumata auseinanderzusetzen. Auf eine stille Art. Ohne die Dramatik der Situation auszuschlachten, ohne Fotos der Kinder zu zeigen, die ihre Geschichten erzählen. Und auch ohne grosse Einordnungen. Steht man in der Ausstellung in Sarajewo, sprechen einzig die Texte und Objekte der Kinder zu einem. Ohne Filter. Tröstend und unerträglich zugleich.
«Es ist ein Ort, an dem wir uns nicht alleine fühlen», sagt Jasminko Halilovic. «Traumata können isolieren», weiss Svitlana Osipchuk. Ausstellungen wie jene des War Childhood Museum schaffen Gemeinschaft.
1999 musste Petrit Halilaj (37) als Kind im Kosovo-Krieg nach Albanien flüchten. Im Flüchtlingslager traf er auf einen Psychiater, mit dem er zu malen begann. Heute ist Halilaj ein weltweit anerkannter Künstler. Aus seinen Zeichnungen von damals hat er 2021 die grosse, immersive Installation «Very volcanic over this green feather» entwickelt, in Zusammenarbeit mit der britischen Kunstgalerie Tate St Ives. Nun hat er die Installation in Genf neu interpretiert. Sie ist in der Ausstellung «Unfinished Histories» zu sehen, im Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum, bis zum 17. September 2023.
1999 musste Petrit Halilaj (37) als Kind im Kosovo-Krieg nach Albanien flüchten. Im Flüchtlingslager traf er auf einen Psychiater, mit dem er zu malen begann. Heute ist Halilaj ein weltweit anerkannter Künstler. Aus seinen Zeichnungen von damals hat er 2021 die grosse, immersive Installation «Very volcanic over this green feather» entwickelt, in Zusammenarbeit mit der britischen Kunstgalerie Tate St Ives. Nun hat er die Installation in Genf neu interpretiert. Sie ist in der Ausstellung «Unfinished Histories» zu sehen, im Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum, bis zum 17. September 2023.
Für Halilovic sind Kriegserfahrungen von Kindern vielschichtig und divers, aber auch universell. Als er sein Buch mit den Kriegserinnerungen bosnischer Kinder in Japan vorstellte, kamen Überlebende des Zweiten Weltkriegs auf ihn zu, um ihm zu sagen, wie sehr sie sich in diesen Geschichten wiederfinden. Dank ihnen habe er begonnen, Objekte über Bosnien hinaus zu sammeln.
Zwölf Geschichten aus der Ukraine werden ab dem 18. September im Polnischen Institut in Kiew zu sehen sein. Es ist die erste Pop-up-Ausstellung im Land seit dem grossflächigen Angriffskrieg. Bisher gebe es in der Sammlung noch keine Exponate von Kindern, die aus der Ukraine in die Schweiz haben flüchten müssen, sagt Osipchuk. Eine Stimme werden sie dennoch haben, dank Kindern wie Oleksii, der heute mit seiner linken Hand zeichnet und schreibt.